Clement: "Wir haben keine Vorstellung mehr von Industrie"

(c) Clemens Fabry
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Der Staat hat nicht zu entscheiden, wie lang ein Mensch arbeiten darf, meint der frühere deutsche Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Er fürchtet um die europäische Industrie.

Das große sozialpolitische Thema der Gegenwart heißt Verteilungsgerechtigkeit. Vermögen stärker besteuern, lautet die Devise. Ist es die richtige Diskussion zur richtigen Zeit?

Wolfgang Clement: Die Diskussion über die Verteilungsgerechtigkeit leidet an den unterschiedlichen Daten. So werden in Deutschland etwa nie die Pensionen der Beamten eingerechnet. Das ist ein gewaltiges Vermögen für jeden Einzelnen. Auch für mich, ich habe eine wunderbare Pension. Viele soziale Unterstützungen werden ebenfalls nicht berechnet. Deshalb halte ich von dieser Diskussion nicht sehr viel. Ich bin dafür, dass wir Chancengerechtigkeit herstellen.

Und damit sind wir in der Schule.

Es gibt kein Kind, das ohne Talent ist. Nur, uns gelingt es nicht, allen Kindern die Chance zu geben, ihre Talente zu leben und zu erleben. Ich höre, dass das Bildungssystem in Österreich auch nicht so toll ist. Aber in Deutschland führt es dazu, dass jährlich 50.000 Jugendliche keinen Schulabschluss erreichen. Wir haben mehr als eine Million Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Das zeigt, dass das Bildungssystem nicht in Ordnung ist. Da beginnt die Chancenungerechtigkeit.

Aber nicht in jedem Kind steckt ein Astrophysiker. Einfache Jobs werden in Billiglohnländern erledigt.

Aber bei uns wächst der Dienstleistungssektors. Und der beinhaltet auch Jobs, für die eine geringe Qualifizierung erforderlich ist. Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert werden. Also etwa im Automobilsektor. Die Jobs an den Fließbändern sind massiv gefährdet.

Und die Arbeiter wählen nicht mehr die Sozialdemokratie, sondern AfD oder FPÖ.

Die treuen Wähler der Sozialdemokratie waren immer die Facharbeiter, das waren nicht die Hilfsarbeiter. Die Träger der deutschen Sozialdemokratie waren immer bildungsorientierte Facharbeiter. Die sind uns abhandengekommen. Nicht alle, aber viele.

Weil es etwa die Achse zwischen Sozialdemokratie und Industrie nicht mehr gibt?

Auch deshalb. Wir haben keine Vorstellung mehr von Industrie. Das ist gefährlich. Dabei konnte man ja während der Finanzkrise lernen, wie wichtig Industrie ist. Dennoch handeln wir zulasten der Industrie. Wir in Deutschland etwa mit unserer Energiewende.

Dennoch müssen wir uns offenbar damit abfinden, dass es künftig weniger Jobs geben wird. Folglich haben jene recht, die Arbeitszeitverkürzung und eine sechste Urlaubswoche propagieren?

Es wird andere Jobs geben. Jede industrielle Revolution hat am Ende dazu geführt, dass Jobs geschaffen wurden. Natürlich wurde zwischendurch etliches zerstört. Ich setze auf den revolutionären und kreativen Prozess, wie er einst von Joseph Schumpeter beschrieben wurde.

Ihr Optimismus in Ehren, aber damit sind Sie derzeit nicht mehrheitsfähig.

Ja, ich verstehe auch, dass viele Menschen diese Zuversicht nicht mehr aufbringen können. Aber ohne Zuversicht ist nie eine bessere Welt entstanden.

Vor allem tätigt man ohne Zuversicht keine Investitionen, sondern wartet ab.

Um uns herum scheint die Welt ja tatsächlich aus den Fugen zu geraten. Keiner weiß, wie das jetzt in der Ukraine weitergeht, noch viel schlimmer ist die Situation im Mittleren Osten oder in Libyen. Die frühere amerikanische Außenministerin Madeleine Albright hat gesagt, sie habe seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie eine so komplexe Situation erlebt. Ich bin richtig erschrocken. Meiner Ansicht nach gab es viel gefährlichere Situationen als heute, ich denke nur an die Kuba-Krise. Aber damals hieß es Ost/West, da schien alles klar aufgeteilt. Heute ist die Welt unübersichtlicher. Ganz abgesehen davon, dass es da noch das Problem mit dem Terrorismus gibt.

Viel ist deshalb von einer neuen Weltordnung die Rede.

In der wird Amerika noch eine Zeit lang die Nummer eins sein, China ist die Nummer zwei, Russland drängt hinein, Indien wird sich das nicht nur ansehen wollen.

Und wo bleibt Europa?

Wir sind zwar wirtschaftlich die Stärksten, aber wir spielen zurzeit gar keine Rolle. Und wir gestalten nicht mit. Das trägt auch sehr viel zur Verunsicherung bei. Wir wirken, als seien wir den Entwicklungen ausgeliefert. Stattdessen sollten wir Europäer die Welt stärker mitgestalten.

Schon der frühere US-Außenminister Kissinger fragte: Was ist die Telefonnummer Europas?

Meinetwegen soll es zwei oder drei Telefonnummern geben. Aber es gibt keine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir sind in Europa nicht in der Lage, unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten.

Und in einem Klima der Unsicherheit wird nicht investiert.

Wir müssen zuallererst in die Sicherheit investieren. Wenn alle 28 EU-Länder ihre Militärbudgets addieren, erreichen sie 50 Prozent des US-Militärbudgets. Und wir erreichen mit diesen 50 Prozent nur zehn Prozent der militärischen Kraft der USA. Wir vergeuden also auch noch Geld und Ressourcen, weil wir keine gemeinsame Verteidigungspolitik haben.

Früher waren diese militärischen Konflikte weit weg, jetzt führen sie bei uns zu sozialen Problemen.

Der frühere französische Staatspräsident Sarkozy hat einst eine europäische Mittelmeer-Politik gefordert. Das haben wir im Norden alle abgelehnt. Er hatte natürlich recht. Wenn wir das Mittelmeer nicht als europäisches Meer betrachten, dann werden wir dort nie Ruhe bekommen. Dann werden wir noch stärker von Immigration betroffen sein als derzeit. Wir müssen versuchen, mit allen Mittelmeerstaaten gemeinsam eine Ordnung herzustellen. Ob uns die Machthaber dort passen oder nicht. Wir werden in Afrika mehr Verantwortung übernehmen müssen.

Die Flüchtlingswelle aus Vorderasien ist nur ein Vorgeschmack auf das, was uns künftig aus Afrika erwartet?

1950 hatte Afrika halb so viele Einwohner wie Europa. 2050 werden in Afrika 2,5 Milliarden Menschen leben – also dreimal so viele wie in Europa. Und wir können uns vorstellen, wohin es die jungen Menschen dann drängen wird.

Derzeit lösen wir das Problem mit Grenzzäunen.

Das Problem lässt sich von uns und von der nächsten Generation nur mit einem neuen Verständnis von Partnerschaft lösen. Wir müssen uns in Afrika stärker wirtschaftlich engagieren und versuchen, der Jugend dort eine Perspektive zu geben.

Eine Jugend ohne Perspektiven finden Sie auch in Südeuropa, da müssen wir nicht nach Afrika blicken.

Ja, und das heißt: Besseres Bildungssystem, unsere duale Ausbildung exportieren. Wir müssen da auch über mehr Geld reden.

Als ob die Sozialsysteme in Deutschland oder Österreich nicht schon genug Geld verschlingen würden.

In Deutschland fließen 55 Prozent der Budgetmittel ins Sozialsystem. Ob wir das beibehalten können, wage ich zu bezweifeln.

Sie haben schon vor zehn Jahren gesagt, dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar ist. Er steht noch immer.

Und in Deutschland beschließen wir schon wieder eine Rentenerhöhung. Die letzte kostet jährlich zehn Milliarden. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten das Geld in Kindergärten und Schulen gesteckt, hätten wir viele soziale Probleme der Zukunft bereits gelöst. Wir müssen mehr in die Zukunft investieren, statt andauern die Vergangenheit zu reparieren.

Aber es gehen mehr Alte wählen.

Wir müssen auch die Alten anders betrachten. Sie sind nämlich viel aktiver, als die Politik es sehen will. 40 Prozent der deutschen Pensionisten bis 70 sagen, dass sie gern noch arbeiten würden. Nur sieben Prozent sagen das aus finanziellen Gründen. Arbeit bedeutet, eine Aufgabe haben, seine Erfahrung einbringen können, unter Menschen sein. Jedes zweite Mädchen, das heute geboren wird, wird 100 Jahre alt. Das ist ein Gewinn an Leben. Meine Eltern sind noch vor der durchschnittlichen Lebenserwartung gestorben. Die lag damals bei 65 Jahren und vier Monaten. Mein Vater hätte nie davon geträumt, so zu leben wie ich es tue.

Aber unsere Pensionssysteme stammen aus der Zeit Ihres Vaters.

Richtig. Ich bin der Meinung, dass wir gar keine gesetzliche Vorgabe darüber brauchen, wie lang der Mensch arbeiten darf. Von meinem Schuleintritt mit sechs Jahren bis zu meinem Abschied aus der Politik mit 65 war alles in meinem Leben staatlich reguliert. Jetzt ist die einzige Zeit, in der ich völlig frei bin. Das ist ein sagenhaftes Gefühl. Und nicht nur für mich, der ich in einer privilegierten Situation bin.

Sie glauben tatsächlich, dass die Leute freiwillig länger arbeiten würden und dass die Unternehmen die Leute freiwillig länger beschäftigen würden?

Ja, ich glaube, dass sich auch die Unternehmen umstellen werden. Wir reden ja heute schon ab einem Alter von 50 vom bevorstehenden Ruhestand. Das muss alles weg.

Aber noch eben sprachen wir von den vielen Jungen, die keine Zukunft haben. Und jetzt sollen die Alten länger arbeiten.

Wir müssen damit Schluss machen, dass die Jungen in der Schule oder Berufsausbildung scheitern. Wir müssen den Frauen insbesondere nach den Kindern mehr Chancen geben, in den Beruf zurückzukehren. Und dann brauchen wir ein anderes Verständnis für das Älterwerden. Aufgrund des demografischen Wandels werden wir dann immer noch qualifizierte Zuwanderung benötigen.

Derzeit geht es aber nicht um qualifizierte Zuwanderer, sondern darum, Kriegsflüchtlingen Schutz zu bieten.

Nur eine minimale Zahl kommt aufgrund von Verfolgung. Kriegsflüchtlinge müssen natürlich bei uns Schutz bekommen, aber sie müssen wieder in ihr Land zurückgehen, wenn dies möglich ist. Wir müssen den Kriegsflüchtlingen auch die Chance geben, dass sie bleiben können, wenn sie sich qualifizieren. Deshalb brauchen wir klare Kriterien für qualifizierte Zuwanderung. Aber eigentlich wäre es natürlich am besten, es gehen auch die Qualifizierten zurück und bringen ihr eigenes Land in Ordnung.

Superminister

Wolfgang Clement leitete unter Kanzler Schröder das „Superministerium“ für Wirtschaft und Arbeit und setzte federführend die Arbeitsmarktreformen durch.

Seine Kritik an der Energiepolitik der SPD (Ausstieg aus der Atomkraft) führte zu seinem Parteiaustritt. Er bezeichnet sich seither als „Sozialdemokrat ohne Parteibuch“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2016)

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