Staat kassiert 6,2 Mrd. Euro durch kalte Progression

Themenbild
Themenbild(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Löhne werden an die Inflation angepasst, das Steuersystem aber nicht. Durch die „versteckte Steuererhöhung“ entgehen jedem Angestellten binnen fünf Jahren 1000 Euro, so die Agenda Austria.

Wien. Ihr Name ist Martha Mayer. Sie ist kinderlos und unverheiratet und verdient 30.000 Euro brutto im Jahr. Dafür bezahlt Mayer 2528 Euro Lohnsteuer, das sind 8,43 Prozent ihres Bruttolohnes. Ihr Lohn wird jährlich an die Inflation angepasst. Im Jahr 2021 wird sie 32.767 Euro brutto verdienen. Inflationsbereinigt hat sie nicht mehr in der Tasche als fünf Jahre zuvor. Aber dem Fiskus bringt das 466 Euro zusätzlich.

Schuld ist die kalte Progression. Sie entsteht, weil die Löhne an die Inflation angepasst werden, Tarifstufen und Steuerabsetzbeträge aber nicht. Das hat zur Folge, dass die österreichischen Arbeitnehmer zwar auf dem Papier Jahr für Jahr mehr verdienen, sich das Plus aber nicht im selben Ausmaß in den Nettogehältern niederschlägt. Den Großteil der Zuwächse liefern sie an das Finanzamt ab. Real, also abzüglich der Inflation, sinken die Löhne häufig sogar.

Martha Mayer ist erfunden. Die kalte Progression, auch bekannt als versteckte Steuererhöhung, ist aber real. Profiteur ist allein der Staat. Allein im Jahr 2017 darf er sich durch die kalte Progression bei Arbeitern und Pensionisten über Mehreinnahmen von 382 Millionen Euro freuen, wie die österreichische Denkfabrik Agenda Austria in einer am Donnerstag veröffentlichten Studie berechnet hat.

Bis 2021 summiert sich die Mehrbelastung der Bürger durch die „versteckte Steuererhöhung“ auf 6,2 Milliarden Euro. Das sind beinahe 1000 Euro von jedem unselbstständig Erwerbstätigen und Pensionisten. „Viele Einkommenserhöhungen nützen somit vor allem dem Staat, aber nicht dem einzelnen Menschen, der dieses Geld durch seine Arbeit erwirtschaftet hat“, so die Autoren. Das Steuersystem in Österreich sei zu starr und reagiere nicht angemessen auf Veränderungen.

In anderen Ländern hat man der kalten Progression einen Riegel vorgeschoben. Spanien etwa hob bis zur Krise im Jahr 2008 die Tarifgrenzwerte jedes Jahr pauschal um zwei Prozent an. In der Schweiz wird der Großteil der Tarife und Steuerabzüge jährlich automatisch an die Inflation angepasst. Sogar Mexiko passt die Tarifgrenzwerte an, sobald die kumulierte Jahresinflation zehn Prozent erreicht.

Schweden als Vorbild

Auch hierzulande hat die Politik das Problem erkannt. Mit Beginn 2017 soll die kalte Progression abgeschafft werden, hat die Regierung versprochen. Die Details müssen noch ausverhandelt werden. Der Vorschlag von Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) sieht vor, dass die Tarifstufen angepasst werden, wenn die kumulierte Inflation fünf Prozent überschreitet. Ähnlich wird das bereits in Mietverträgen gehandhabt.

Bei der derzeitigen Preisentwicklung würde es in der Regel alle drei Jahre zu einer automatischen Anpassung kommen. Der Gewerkschaftsbund und die Arbeiterkammer haben fast denselben Plan. Der Agenda Austria geht dieser Vorschlag, der dem mexikanischen System sehr ähnlich wäre, nicht weit genug. Eine Fünf-Prozent-Hürde würde die kalte Progression zwar abmildern. Es bliebe aber immer noch eine Mehrbelastung von über vier Milliarden Euro bis 2021.

Besser sei das schwedische Modell. Dort wird das Einkommensteuersystem nicht nur automatisch an die Inflation angepasst, sondern zusätzlich auch an die realen Lohnsteigerungen. In der Regel wird die Formel Inflation plus zwei Prozent angewendet. Würde man das Modell auf Österreich umlegen, wie die Agenda Austria vorschlägt, würde nicht nur die Mehrbelastung durch die kalte Progression wegfallen. Die Steuerzahler würden bis Ende des Jahres 2021 um 1,6 Mrd. Euro entlastet.
Geld, das dem Fiskus fehlen würde. Daran hakt es auch bei den Plänen zur Abschaffung der kalten Progression: Es ist nicht klar, wie der Einnahmenentfall gegenfinanziert werden soll. (bin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.