Wie sich VW erpressbar machte

Just-in-Time-Risiko: Fehlt nur ein Teil, steht die Produktion im Autowerk still.
Just-in-Time-Risiko: Fehlt nur ein Teil, steht die Produktion im Autowerk still. imago stock&people
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Autozulieferer stehen unter großem wirtschaftlichen Druck der Hersteller. Gleichzeitig verleiht ihnen die Just-in-Time-Lieferung aber auch Macht. Ein Zulieferer nutzte dies in einem Streit mit VW nun aus.

Wien. Es ist ein Streit, bei dem vieles noch im Dunkeln liegt. Selbst der niedersächsische Wirtschaftsminister, Olaf Lies, der das Land im VW-Aufsichtsrat vertritt, musste im Landtag von Hannover zugeben, dass es nicht einfach sei, die Hintergründe der Auseinandersetzung vollständig zu durchschauen. Klar ist jedoch, dass der Streit zwischen Europas größtem Autohersteller und einem Zulieferer in den vergangenen Tagen so eskaliert ist, dass VW in fünf deutschen Werken die Produktion stilllegen oder zumindest drosseln muss, 20.000 Beschäftigte von Kurzarbeit betroffen sind und sich Tausende Kunden Sorgen über die Einhaltung von vereinbarten Lieferterminen machen müssen. Knapp ein Jahr nach dem Abgasskandal also das nächste Desaster für den einst erfolgsverwöhnten Konzern.

Über den konkreten Anlassfall für den Streit breiten beide Seiten den Mantel des Schweigens. Man sei in einer juristischen Auseinandersetzung mit VW und daher zur Vertraulichkeit verpflichtet, hieß es laut deutschen Medienberichten beim Zulieferer. Und auch bei VW will man sich zu den Details nicht äußern. Nach Angaben des Landgerichts Braunschweig geht es jedoch um ein gescheitertes Projekt, das VW mit dem Sitzbezughersteller Car Trim durchführen wollte. Car Trim stellte daraufhin finanzielle Ansprüche an VW, die dort jedoch als überzogen wahrgenommen wurden.

Bosnische Firmengruppe

Daraus entstand ein Rechtsstreit zwischen VW und dem Zulieferer, der seit April zur bosnischen Prevent-Gruppe gehört. Prevent ist nicht nur das größte Unternehmen in Bosnien und Herzegowina, die Gruppe beschäftigt auch rund 15.000 Mitarbeiter in 30 Ländern und hat eine Vielzahl von Töchtern, die als Automobilzulieferer tätig sind. Dazu gehört auch die in Sachsen beheimatete Firma ES Automobilguss, die ebenfalls VW mit Teilen beliefert.

Vor einigen Tagen stellten sowohl Car Trim als auch ES Automobilguss die Belieferung von VW mit Teilen ein. Eine Maßnahme, zu der man gezwungen worden sei, weil VW seine Marktmacht missbraucht habe, erklärte der Geschäftsführer von ES Automobilguss am Freitag. „VW zwingt uns zu diesem Vorgehen, um unsere eigenen Mitarbeiter zu schützen und letztlich den Fortbestand des Unternehmens zu sichern.“

Dass Autozulieferer unter einem sehr großen Druck der Hersteller leiden, ist bekannt. So ist es etwa üblich, dass in mehrjährigen Lieferverträgen festgeschrieben ist, dass die gelieferten Teile jedes Jahr um einen gewissen Prozentsatz billiger werden müssen. Durch den plötzlichen Lieferstopp drehten die VW-Zulieferer die Machtverhältnisse jedoch schlagartig um. Möglich ist das, weil in der Automobilindustrie nach dem Just-in-Time-Prinzip gearbeitet wird. Um Lagerkosten zu sparen, werden die benötigten Teile erst kurz vor der Endmontage der Fahrzeuge in den Automobilwerken angeliefert. Um den Risken eines Produktionsausfalls bei einem Zulieferer (etwa nach einem Brand) vorzubeugen, galt früher daher die Regel, dass jeder Teil von zumindest zwei unterschiedlichen Zulieferern geliefert werden muss.

Diese Regel wird aus Kostengründen in jüngster Zeit aber immer wieder ignoriert – so auch bei VW. Aufgrund der größeren Stückzahlen kann ein einzelner Lieferant nämlich billiger produzieren. In der aktuellen Auseinandersetzung rächte sich das für VW jedoch bitter. Fehlende Sitzbezüge und Getriebegehäuse sorgten dafür, dass in Emden, Wolfsburg, Kassel, Braunschweig und Zwickau bereits Bänder stehen oder Kurzarbeit geprüft werden muss.

Haft für Geschäftsführer

Bei VW reagierte man darauf bereits mit allen juristischen Mitteln. Zwar versicherte ein Sprecher, dass man nach wie vor auf eine gütliche Einigung hoffe. Gleichzeitig holte sich der Wolfsburger Konzern bereits das Pouvoir, die benötigten Teile auch mittels Gerichtsvollzieher von den beiden Zulieferern zu holen. Das zuständige Gericht gab dem Antrag von VW statt, wonach die Lieferanten die Lieferungen vertragswidrig gestoppt haben. Theoretisch könnte VW nun also Lkw zu den Zulieferern schicken und die Teile dort beschlagnahmen lassen. Auch Strafen von bis zu 250.000 Euro sowie sogar Haft für die Geschäftsführer der beiden Lieferanten nannte das Gericht als mögliche Folge einer weiteren Lieferverweigerung. Vor Gericht verhandelt werden soll der ganze Streit erst am 31. August – bis dahin sollen die Bänder jedoch wieder laufen.

VW wurde durch den Fall die eigene Verletzlichkeit schmerzhaft vor Augen geführt. Aber auch für die Zulieferer kann es im besten Fall ein Pyrrhus-Sieg werden. Denn selbst wenn sie die ursprünglichen Forderungen abgegolten bekommen: Die Verhandlungen für künftige Aufträge von VW dürften wohl ausgesprochen schwierig werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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