Venezuelas Jahr der Verheerung

Das sozialistische Venezuela ist im Jahr 2016 de facto zusammengebrochen. Präsident Maduro stützt sich noch auf die Streitkräfte. Südamerika droht eine Flüchtlingskrise.
Das sozialistische Venezuela ist im Jahr 2016 de facto zusammengebrochen. Präsident Maduro stützt sich noch auf die Streitkräfte. Südamerika droht eine Flüchtlingskrise.Alejandro Cegarra / AP / picturedesk.com
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Venezuela verzeichnete im vergangenen Jahr die höchste Inflationsrate der Welt. Der niedrige Ölpreis und die sozialistische Regierung haben das Land an den Rand des Abgrunds getrieben.

Buenos Aires/Caracas. In der Abenddämmerung, die kurz ist in den Tropen, laufen junge Frauen und Männer hinunter zum feinen Sandstrand nahe dem Küstenstädtchen La Vela. Aber mit Romantik unter karibischen Palmen hat diese Szene nichts zu tun. Denn die Menschen, die zu den Barkassen mit den großen Außenbordmotoren hasten, wollen ihr Land verlassen. Viele haben alles, was ihnen noch geblieben ist, weit unter Wert verkauft für die Passage hinüber nach Curaçao oder Aruba, die niederländischen Antillen, die manche der Flüchtenden von früher kennen, als sie dort Urlaub machten.

Nun, wenn sie Glück haben, wenn ihr Boot nicht kentert, wenn die mit Spezialisten aus den Niederlanden verstärkte Küstenwache sie nicht auffischt und zurückschickt, dann können sie hoffen, in den gleichen Hotels von damals ein paar Monate illegal arbeiten zu können, als Küchenhilfen oder Putzkräfte. Es ist eine Migration der Hoffnungslosen, denn alle wissen, dass die kleinen Inseln ihnen keine Perspektive auf einen legalen Neuanfang bieten können. Und doch fliehen sie aus dem Armenhaus, zu dem ihr einst so reiches Land geworden ist, vor Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Hunger.

Maduro stützt sich auf die Streitkräfte

2016 war Venezuelas Jahr der Verheerung. Noch nie zuvor ist ein Staat in Friedenszeiten derart abgestürzt. Sämtliche chronische Übel des Öllandes, seiner Gesellschaft und seiner Ökonomie haben sich in diesem Jahr potenziert. Äußere Faktoren wie das Klimaphänomen El Niño und der Absturz der Rohölpreise verstärkten die hausgemachte politische und wirtschaftliche Krise. Nachdem die Einkünfte aus dem Ölexport einbrachen, musste die Regierung zur Erhaltung der Zahlungsfähigkeit alle Einfuhren reduzieren – auch jene von Lebensmitteln und Arzneien.

Und weil die Opposition seit Jahresbeginn das Parlament dominiert, regiert Präsident Nicolás Maduro mithilfe des Höchstgerichtes, das sämtliche Parlamentsbeschlüsse kassiert. Und er stützt – längst bedrängt auch aus dem eigenen Lager – seine verbleibende Macht auf die Streitkräfte. Denen räumte er weitreichende Vollmachten ein, unter anderem jene, die wenigen Lebensmittel zu verteilen, die Venezuela noch importieren kann. So füllt Maduro die Mägen seiner Beschützer – und wohl auch die Taschen der Kommandierenden, die an allen Stationen vom Hafen bis zum Endverbraucher an der Not ihrer darbenden Landsleute mitschneiden und abkassieren.

Erhebliche Teile der Militärführung, traditionell entscheidender Machtfaktor in Venezuela, haben sich seit Jahren zu Spießgesellen einer „bolivarischen Revolution“ machen lassen, in der die Grenzen zwischen legal und illegal kontinuierlich verschwimmen. 800 Milliarden Dollar seien seit Chávez Amtsantritt in Venezuela gestohlen worden, schätzt der spanische Ex-Premier Felipe González.

Im Mai hat die US-Justiz mehrere venezolanische Generäle wegen Drogenhandels angeklagt, unter anderem den Ex-Chef der Drogenfahndung, Néstor Reverol, dessen stattliches US-Vermögen eingefroren wurde. Im Gegenzug ernannte Nicolás Maduro den General zum Innen- und Justizminister. Am 18. November sprach ein New Yorker Gericht zwei Vettern schuldig, die 800 Kilogramm Kokain in die USA schmuggeln wollten. Efraín Campos Flores und Frankie Flores de Freitas sind die Neffen von Venezuelas First Lady Cilia Flores.

Das totale Desaster des Landes mit den laut Opec größten Ölreserven der Welt reflektiert sich in den Wirtschaftskennzahlen. Die Inflationsrate, seit Jahren die höchste der Welt, ist seit dem Vorjahr von 180 auf etwa 500 Prozent angewachsen. Der Ökonom Jesús Casique von der Beratungsfirma Capital Market Finance schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt 2016 um etwa zwölf Prozent fiel. An mehr als 80 Prozent aller Grundnahrungsmittel herrscht Mangel, und vier von fünf Venezolanern leben inzwischen unter der Armutsgrenze. Das ergab eine im Dezember publizierte Studie der katholischen Universität Andrés Bello, die weiterhin ermittelte, dass 2,4 Millionen Menschen nichts anderes mehr bleibt, als sich aus dem Müll der anderen zu ernähren.

Erdöl ist die einzige Lebensader

Die Versorgung mit Grundprodukten war schon seit vielen Jahren problematisch und zwang ganze Familien zu einem Leben in Warteschlangen. Doch dieses Jahr bewirkte der Mix aus explodierenden Preisen, Verlust von Arbeitsplätzen und stark reduzierten Importen in vielen Haushalten gähnend leere Eiskästen.

Zu Weihnachten wurde der Fall des Kevin Lara Lugo publik, der an seinem 16. Geburtstag starb, weil er nach drei Tagen ohne Nahrung giftige Wurzeln aß, die er für Maniok hielt. Er konnte nicht gerettet werden, weil in der größten Klinik der Industriestadt Maturín keinerlei Arznei zu bekommen war.

Auch die Erdölförderung – Venezuelas einzige Lebensader, die 96 Prozent der Exporte ausmacht – leidet unter der Mangelversorgung. Vielen Arbeitern reicht ihr Lohn nicht mehr, um ihre Familien zu ernähren. Und viele Väter verzichten auf ihr Essen zugunsten ihrer Kinder.

Die reduzierte Leistung der demotivierten Belegschaft ist jedoch nicht das größte Problem der Staats-Öl-Firma PdVSA. Auch nicht die ständig rückläufige Förderquote (aktuell etwa 2,4 Millionen Fass pro Tag, eine Million weniger als bei Chávez Amtsantritt 1999). Diese ist eine Folge des Abzuges internationaler Servicefirmen wie Halliburton und Schlumberger, deren Dienste seit Jahren nicht bezahlt wurden. PdVSA größtes Problem sind ihre Schulden.

Im Oktober versuchte die Firmenleitung, Bonds, die 2017 fällig würden, um drei Jahre zu verlängern. Um das zu erreichen, musste sie 50,1 Prozent ihrer Tochter Citgo als Garantie einsetzen, die in den USA drei Raffinerien für das superschwere Venezuela-Öl betreibt, dazu Pipelines und Tankstellen. Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass Maduros Regierung auch die restlichen 49,9 Prozent von Citgo an Rosneft verpfändete, um an Cash zu kommen, angeblich gab der russische Ölriese 1,5 Milliarden Dollar für Venezuelas allerletztes Tafelsilber.

Und was passiert 2017? Venezuela hat nur eine Hoffnung: Dass der Ölpreis wieder kräftig steigt, nachdem sich Opec und andere Petro-Länder auf die Reduktion der Fördermengen einigten. Doch Barrel-Preise von 60 bis 70 Dollar, wie sie viele Experten für möglich halten, dürften Venezuela wenig helfen. „Das gleicht nicht einmal das aus, was wir durch den Niedergang unserer Förderindustrie weniger verkaufen“, sagt der Consultant Jesús Casique.

Darum muss sich ganz Amerika auf ein Katastrophenszenario vorbereiten. Die Flüchtlingsströme aus dem 30-Millionen-Land könnten massiv anschwellen und vor allem die Nachbarstaaten Kolumbien und Brasilien schwer belasten. Nach dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems drohen sich Tropenkrankheiten wie Malaria, Dengue, Zika und Chikungunya weiter auszubreiten.

Und Venezuela könnte zum gewalttätigsten Land der Erde werden. 2016 wurden 28.479 Menschen ermordet, das entspricht 91,8 Morden pro 100.000 Einwohner. Nur das gewaltverpestete El Salvador hatte 2016 eine noch höhere Mordquote.

Was wird Trump machen?

Die meisten Wirtschaftsexperten rechnen damit, dass sich die Inflation noch verstärken wird, weil die Regierung nicht umhin kommen wird, die Ölgesellschaft mit ständig neuem Geld anzufüttern. Der Internationale Währungsfonds kalkuliert mit einer Teuerung von 1200 Prozent in 2017. Entscheidend dürfte sein, wie sich der außenpolitische Anfänger im Weißen Haus aufstellt.

Barack Obama hat sämtliche Pöbeleien aus dem Süden ignoriert und zuletzt alle Vermittlungsinitiativen zwischen Regierung und Opposition unterstützt, damit ihm das Pulverfass nicht kurz vor dem Amtsende noch um die Ohren fliegt. Doch wird der neue US-Präsident Donald Trump ähnliche Langmut haben? Im Wahlkampf hat er eine härtere Gangart angekündigt. Aber da wusste er wohl noch nicht, wie explosiv das Desaster in seinem Hinterhof werden kann.

AUF EINEN BLICK

Die Inflationsrate ist in Venezuela seit dem Vorjahr von 180 auf etwa 500 Prozent angewachsen. Der Ökonom Jesús Casique von der Beratungsfirma Capital Market Finance schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt 2016 um etwa zwölf Prozent fiel. An mehr als 80 Prozent aller Grundnahrungsmittel herrscht Mangel, und vier von fünf Venezolanern leben inzwischen unter der Armutsgrenze. Das ergab eine Studie der katholischen Universität Andrés Bello, die weiterhin ermittelte, dass 2,4 Millionen Menschen nichts anderes mehr bleibt, als sich aus dem Müll der anderen zu ernähren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2016)

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