London–Brighton: Nie pünktlich

A bus crosses Westminster Bridge on a foggy morning in central London
A bus crosses Westminster Bridge on a foggy morning in central London(c) REUTERS (STEFAN WERMUTH)
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Ein Drittel der britischen Arbeitnehmer pendelt in die Arbeit. Die Infrastruktur ist darauf nicht ausgelegt, die Menschen zahlen einen in jeder Hinsicht hohen Preis.

London. Pünktlich wie der Glockenschlag des Big Ben zu Mitternacht beginnt für die Briten das neue Jahr traditionell mit einer Preiserhöhung der öffentlichen Verkehrsmittel. Die Teuerung von 2,3 Prozent für 2017 wurde von Konsumentenschützern als „Schlag ins Gesicht der leidgeprüften Kunden“ bezeichnet. „Jetzt müssen sie für schlechtere Leistungen noch höhere Preise zahlen“, kritisierte Lianna Etkind von der Campaign for Better Transport.

Damit nicht genug: Am ersten vollen Arbeitstag nach den Weihnachtsfeiertagen am kommenden Montag (9. Jänner) nehmen die Gewerkschaften wieder ihren Streik auf der Southern Rail auf. Die Linie verbindet das Londoner Umland von Bedford im Norden bis Brighton im Süden mit der britischen Hauptstadt und wird von 600.000 Fahrgästen am Tag benützt. Die Linie ist so hoffnungslos überlastet, dass der am stärksten benützte Zug, die 7.29-Uhr-Verbindung von Brighton Station nach London Victoria dafür berühmt wurde, in den vergangenen Jahren in 240 Fahrten kein einziges Mal das Ziel pünktlich erreicht zu haben. So überfüllt ist der Zug, dass die Ein- und Ausstiegzeiten den Fahrplan bestenfalls zur Schätzung machen.

Geschichten über das Leid der Passagiere sind mittlerweile Legende. Menschen verlieren ihre Arbeit, weil sie jeden Tag zu spät kommen. Andere kündigen ihren Job, weil sich Arbeit, Verkehrschaos und Familie nicht mehr länger vereinbaren lassen: „Ich konnte es nicht mehr aushalten“, sagt die 47-jährige Liza Tong, die einen Job im Management aufgeben musste. Ihre tägliche Reisezeit war zuletzt von zwei Stunden auf durchschnittlich dreieinhalb Stunden pro Tag gestiegen. Eine andere Pendlerin, die 39-jährige Helen Barker, ergänzt: „Ich schaffe es nie, meine Kinder abends zu Bett zu bringen. Wir haben totales Chaos.“

Gewerkschaft ruft zum Streik auf

Und keineswegs nur, wenn die Gewerkschaften zum Streik aufrufen. Schon im Normalbetrieb sind die Verkehrsmittel hoffnungslos überlastet und bieten den Kunden ein Service an, das weit unter allen akzeptablen Standards bleibt. Züge entfallen ohne Vorankündigung und Ersatzdienste, dafür aber mit blumigsten Entschuldigungen. So manchem verhinderten Fahrgast geht das sprichwörtliche G'impfte auf, wenn über den Lautsprecher zum ungezählten Mal eine süßliche Stimme ein „We sincerely/profusely/deeply apologise“ haucht. Im Bahnhof London Waterloo, durch den sich im Jahr 100 Millionen Pendler kämpfen, muss regelmäßig die Polizei eingreifen, um aufgebrachte Wartende zu besänftigen oder festzunehmen.

Das Service ist nicht nur miserabel, es ist auch skandalös teuer. Für eine Jahreskarte muss ein Pendler bis zu 15 Prozent seines Jahreseinkommens zahlen, der Durchschnittspreis lag im Vorjahr bei 2446 Pfund. Mit einem Durchschnittsalter von 21 Jahren sind die britischen Züge heute so alt wie seit Langem nicht mehr. In manchen Landesteilen sind noch Züge unterwegs, in denen einst Robert Stevenson gesessen haben könnte und die nicht nur entsprechenden „Komfort“ bieten, sondern auch für diesbezügliche Geschwindigkeiten ausgelegt sind. Wer in einem 41 Jahre alten Waggon von London nach Schottland unterwegs ist, für den wird die „Entdeckung der Langsamkeit“ zur realen Erfahrung.

Dafür legen die Briten die weitesten Strecken im internationalen Vergleich zurück und sind am längsten unterwegs. Mehr als ein Drittel der 31,8 Millionen britischen Arbeitnehmer sind Pendler, davon reisen 3,7 Millionen mehr als zwei Stunden am Tag – ein Zuwachs von 900.000 allein in den vergangenen fünf Jahren.

Täglich zwei Stunden in die Arbeit

An der Spitze liegt Birmingham mit einer Durchschnittsfahrzeit von 94Minuten, gefolgt von Manchester mit 87 und London mit 84Minuten. Insgesamt legt der britische Pendler im Jahr nicht weniger als 10.000 Meilen zurück.

Sorgt in dünner besiedelten Gebieten eine unzureichende und seit Jahrzehnten vernachlässigte Infrastruktur für lange Fahrzeiten, ist es in den Städten vor allem die heillose Überlastung. Die Bevölkerung Londons wird in den nächsten 25 Jahren die Zehn-Millionen-Marke überschreiten. Aber den Kern des modernen Verkehrsnetzes bildet bis heute ein vor 150 Jahren begonnenes U-Bahn-Netz. Der neue Cross Rail wird für Baukosten von 15 Milliarden Pfund ab 2018 zehn Prozent mehr Kapazität auf der Ost-West-Strecke schaffen – und gilt heute schon als hoffnungslos unterdimensioniert. Weiterhin zieht der „Magnet London“, wie die Statistikbehörde schreibt, aus dem ganzen Südosten Englands Arbeitskräfte an. Wegen der horrenden Wohnungskosten (der Durchschnittspreis für eine Wohnung in London betrug zu Jahresende mit 473.073Pfund mehr als doppelt so viel wie im Rest des Landes mit 205.937Pfund) wird es immer schwieriger, in der Hauptstadt Fuß zu fassen – insbesondere für Jungfamilien.

Pendeln bedeutet ökonomisch verlorene Zeit, zerstört lokale Bindungen und macht unglücklich. Die Studie über den Zusammenhang zwischen Pendeln und Brexit wurde noch nicht verfasst. Eine Studie der nationalen Statistikbehörde hat ergeben, dass Pendler weniger mit ihrem Leben zufrieden sind, ihren Tagesablauf für weniger sinnvoll halten und unter höherer Anspannung leiden.

Schließlich kann man nie wissen, wann die nächste Ankündigung erfolgt: „We apologize for the delay“ – „Wir entschuldigen uns für die Verspätung.“

AUF EINEN BLICK

Um 2,3 Prozent werden in Großbritannien die Preise für öffentliche Verkehrsmittel erhöht. Für viele Pendler ist das ein Hohn. Denn die Qualität in den Pendlerzügen und Bussen ist katastrophal. Mehr als ein Drittel der 31,8 Millionen Arbeitnehmer sind auf das Pendeln angewiesen. Für viele wird die tägliche Fahrt in die Arbeit zum Spießrutenlauf. 3,7 Millionen Menschen verbringen täglich mehr als zwei Stunden in Pendlerzügen.

2447 Pfund kostete im Vorjahr im Schnitt eine Jahreskarte für einen britischen Pendler. Damit gehen in der Regel 15 Prozent des Jahreseinkommens allein fürs Pendeln drauf. Die Garnituren können hingegen nicht mit den im internationalen Vergleich horrenden Preisen mithalten. Im Schnitt sind britische Züge 21 Jahre alt.

Das Arbeitsjahr beginnt für die britischen Pendler auch gleich stimmungsvoll: Ab Montag ruft die Gewerkschaft auf der Southern Rail zum Streik auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2017)

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