Welthandel: Neue Hürden gefährden Aufschwung

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Die Forderung der Bürger nach Gütesiegeln und Qualitätsstandards wird immer öfter als Importhindernis missbraucht, sagt WTO-Generaldirektor Pascal Lamy.

BRÜSSEL. Seit Monaten schwillt der Chor der Stimmen an, die angesichts der Weltwirtschaftskrise vor einer Renaissance der Handelshürden warnen. Welchen Effekt das hätte, kann man an den 1930er-Jahren ablesen. Ein Land ums andere führte prohibitive Importzölle und Quoten für ausländische Waren ein, bis der Welthandel fast zum Erliegen kam und aus dem Börsenkrach des Jahres 1929 die Große Depression machte.

Diese Gefahr einer Eskalation von Zöllen und Quoten droht der Welt heute nicht mehr. Dafür sorgen die Regeln der Welthandelsorganisation WTO und ihr wirksamer Sanktionsmechanismus, von dem reiche und arme Länder eifrig Gebrauch machen.

Der Protektionismus der Gegenwart kommt viel harmloser daher als jener der 1930er-Jahre. Er reckt sein Haupt in der Form all der Gütesiegel, Qualitätsstandards und Garantieanforderungen, die das wachsende soziale und ökologische Bewusstsein reicherer Gesellschaften missbrauchen.

Hühnerkäfige und Rosen

Am Mittwoch schlug WTO-Generaldirektor Pascal Lamy Alarm. „Die klassischen Handelshürden verschwinden. Aber die Hürden hinter der Grenze werden zahlreicher“, sagte er bei einem Vortrag am European Policy Centre in Brüssel. In einem gewissen Ausmaß sei das logisch, fügte er hinzu. „Wenn sich Länder entwickeln, legen sie mehr Wert auf Fragen der Umwelt und der Gesundheit, was sie sich vorher nicht leisten konnten.“

Dieses wachsende Verantwortungsgefühl öffne aber dem Missbrauch Tür und Tor. „Es ist ziemlich schwierig, zwischen der EU und den USA einen gemeinsamen Standard dafür festzulegen, wie man Hühnerfleisch mit Chlor desinfiziert. Und wir werden ein Problem haben, zwischen Kanada und Bangladesch einen gemeinsamen Standard für die Größe von Hühnerkäfigen zu vereinbaren“, erklärte der Franzose, der von 1999 bis 2004 EU-Handelskommissar war.

Diese technisch erscheinenden Fragen mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen, aber sie rücken seit Jahren zusehends in den Brennpunkt der internationalen Verhandlungen zur weiteren Liberalisierung des Austausches von Waren und Gütern.

Freihandel oder Umweltschutz?

Als 2003 der WTO-Gipfel in Cancún vorbereitet wurde, bestand eines der kniffligsten Probleme darin, wie man mit diesen sogenannten „Non-tariff barriers to trade“ umgeht. Da ging es zum Beispiel um ein niederländisches Gütesiegel für Schnittblumen. Wer seine Rosen mit diesem Siegel versehen und damit ihre Qualität bekunden wollte, musste um einen fünfstelligen Eurobetrag dem Dachverband von Blumenzüchtern beitreten, der das Siegel ausstellte. Das war eine unüberwindbare Hürde für georgische oder kenianische Blumenzüchter, um auf den niederländischen Markt zu kommen.

Muss sich die Welt also zwischen Freihandel und Umweltschutz entscheiden, zwischen Freihandel und sozialen Standards für die Arbeitsbedingungen chinesischer Fabrikarbeiter? „Das ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit“, sagte Lamy. „Unser Werkzeugkasten ist da. Mit der WTO gibt es kein Problem. Es gibt ein Abkommen, das den Handel mit bedrohten Tierarten verbietet, eines, das den Handel mit Giftmüll reguliert, und im Abkommen über die Fluorkohlenwasserstoffe (die Verursacher des Ozonlochs, Anm.)gibt es sogar ausdrückliche Handelssanktionen.“

Zurück in die 70er-Jahre

Auch Fredrik Erixon and Razeen Sally von der Brüsseler Denkfabrik Ecipe warnen in einem aktuellen Papier vor den versteckten, innerstaatlichen Hürden für den Handel. Sie ziehen den Vergleich mit dem Protektionismus, der in den 1970er-Jahren nach der Ölkrise aufkam. „Eine Industrie nach der anderen forderte Schutz vor ausländischer Konkurrenz, nachdem sie von ihren Regierungen aufgepäppelt worden waren“, schreiben die beiden.

AUF EINEN BLICK

Der Welthandel ist 2009 um zwölf Prozent geschrumpft, nicht wie bisher berechnet um zehn. Das liegt zwar an der Rezession und nicht an neuen Zollschranken. WTO-Chef Pascal Lamy warnt aber vor dem Aufkommen versteckter neuer Handelshemmnisse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2010)

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