Neue Strömungen im Schweizer Gebirge

Der Muttsee in den Glarner Alpen auf knapp 2500 Metern Seehöhe. Die Staumauer hat den Wasserspiegel um 28 Meter angehoben.
Der Muttsee in den Glarner Alpen auf knapp 2500 Metern Seehöhe. Die Staumauer hat den Wasserspiegel um 28 Meter angehoben. (c) Alstom
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Nach 30 Jahren Pause wurde in der Schweiz wieder eine Staumauer für ein Pumpspeicherwerk errichtet. Das landesweit größte Projekt der Energiewirtschaft baut auf Varspeed-Generatoren.

Bedrohlich ragen die Felsen der Glarner Alpen in den Himmel, der es in dieser Gegend vorzieht, in klarem Blau zu erstrahlen und nicht in einem trüben Farbton, der dem Schweizer Gemüt so gar nicht entspräche. Beinahe senkrecht teilen sie Wänden gleich die Landschaft in ewige Segmente eines großen Ganzen, das sich als flächendeckendes Gebirge unerbittlich und erhaben zugleich ausnimmt. Sich als Mensch solche Gegebenheiten der Natur untertan zu machen, mutet selbst im 21. Jahrhundert vermessen an. In schwindelerregenden Höhen überwinden Gondeln die Breite der Schlucht und die Tiefe des Raums. Mal transportieren sie Menschen, mal schweres Material – vom Tal hinauf auf das Plateau, von dem aus die Schweiz wie ein schier grenzenloses Meer aus weißem Schnee erscheint.

Linthal im Kanton Glarus, 86 Kilometer südöstlich von Zürich. Hier, auf einer Höhe zwischen 1860 und 2500 Metern, befindet sich eine der höchstgelegenen Großbaustellen Europas. Hier, in der öden Wildnis, entsteht das größte Bauprojekt der Schweizer Energiewirtschaft: Linthal 2015: ein unterirdisches Pumpspeicherwerk gigantischen Ausmaßes, leistungsstärker als Österreichs größtes Wasserkraftwerk im Kärntner Maltatal. Vier Turbinen mit einer Pump- und Turbinenleistung von 1000 Megawatt werden installiert, was der Durchschnittsleistung eines Kernreaktors gleichkommt.

Geräusch- und Sprachengemisch. Sieben Jahre Bauzeit wurden bei der Beschlussfassung im Jahr 2009 veranschlagt. Vorgesehen ist, dass heuer mit der ersten der vier Maschinengruppen der Betrieb aufgenommen wird. Die Investitionskosten belaufen sich auf etwa zwei Milliarden Franken (1,86 Mrd. Euro). Das Kraftwerk ist ein Partnerunternehmen des Kantons Glarus und der Axpo AG, Teil der Axpo-Gruppe, die rund drei Millionen Menschen und mehrere tausend Betriebe mit Energie versorgt. Eigentümer der Axpo Holding, die auch Atomkraftwerke betreibt, sind Nordostschweizer Kantone.

Das Pumpspeicherwerk Linthal 2015 ist für die Schweiz im wahrsten Sinne des Wortes historisch. Über 30 Jahre lang hat das Land keine Staumauer für ein Wasserkraftwerk errichtet. Heute staut die neue mit einer Länge von 1054 Metern und einer Höhe von 35 Metern den Muttsee in einer Höhe von knapp 2500 Metern Seehöhe. Um 28 Meter hat sie dessen Wasserspiegel angehoben und den Nutzinhalt auf knapp 25 Millionen Kubikmeter fast verdreifacht.

Vier Pumpspeichersätze mit je 250 Megawatt werden in der siebenstöckigen Maschinenkaverne installiert. 180 Arbeiter wuseln durch die Halle. Hämmer wetteifern in der Lautstärke mit Schweißapparaten, Hupen mit Fräsen. Schwyzerdütsch wechselt mit Französisch, österreichische Dialekte mit Portugiesisch. „Gute Schweißer zu finden, ist nicht so einfach“, sagt Werks-Vertreter Simon Gauch: „Wir haben viele aus Portugal hier. Zu Spitzenzeiten arbeiten 38 Schweißer in zwei Schichten.“

Die vier Generatoren mit einem Durchmesser von je zehn Metern sind nicht nur das Herzstück der Anlage, sie sind gewissermaßen auch Herzensangelegenheit der Techniker, nicht auf traditionelle Synchronmaschinen zu setzen, sondern mit einem „drehzahlvariablen, asynchronen Motor-Generator“ neue Wege zu gehen und den Spielraum in der Produktion auszuweiten. Der französische Maschinenbaukonzern Alstom hat für Linthal erstmals einen asynchronen Generator namens Varspeed PSP entwickelt.

Variable Speichertechnologien. Alstom springt damit auf einen erst seit Kurzem fahrenden Zug auf und kommt der steigenden Nachfrage nach immer variableren Speichertechnologien nach. Die traditionellen Pumpspeicherwerke mit ihren Synchronmaschinen konnten zwar auch schon die Schwankungen im Stromnetz ausgleichen, worin ja ihr Wert für den Sektor liegt, der auf die schnelle Erzeugung von sogenannter Spitzenenergie aus dem Stauseewasser in Zeiten starker Nachfrage angewiesen ist. Aber da sie mit einer festen Drehzahl des Generators arbeiten und nur pumpen können, wenn überflüssige Energie im Netz die Nennleistungsaufnahme der Pumpe übersteigt, haben sie natürliche Grenzen. Sie gelten als starr und unflexibel.

Im Unterschied zu ihnen können Varspeed-Modelle („variable speed“) die Leistung von sich aus beeinflussen, weil eine geänderte Rotorfrequenz auch die Drehzahl mitabändere, wie Alexander Schwery, verantwortlicher Forschungsleiter bei Alstom Hydro im schweizerischen Birr, erklärt: Sie können also auch bei einem geringeren Energieüberschuss pumpen und daher schneller zur Netzstabilisierung beitragen als Synchronmaschinen.

Alstom betritt mit dem Projekt Linthal Neuland. Die Entwicklung der Varspeed-Technologie läuft seit 2008. In Linthal soll der Betrieb heuer losgehen.

Umstrittene Energiestrategie. Wasserkraft gilt als aussichtsreich. Zwar deckt sie schon jetzt 80 Prozent der Stromproduktion aus erneuerbaren Energiequellen, aber doch nur 16 Prozent der gesamten globalen Stromproduktion. Schätzungen zufolge werden nur 33 Prozent der globalen Wasserkraftkapazitäten genützt. Aber der Zuwachs ist stark. In den vergangenen fünf Jahren wurden Produktionskapazitäten von 150 Gigawatt geschaffen. Um aber die CO2-Ziele zu erreichen, muss Europa bis 2020 weitere 390 Gigawatt an Produktionskapazitäten schaffen.

Der Trend macht auch vor der Schweiz nicht Halt. Und so ist das neue Kraftwerk in Linthal Teil der Schweizerischen Energiestrategie 2050, die vorsieht, den Verbrauch fossiler Energien (Öl, Gas, Benzin) zu reduzieren, unabhängig vom Atomstrom zu werden und den Stromverbrauch zu stabilisieren. Sieht man sich den Energiemix an, so ist er zu fast 70 Prozent fossil- und auslandsabhängig.

Beim gesamten Elektrizitätsaufkommen zeigen die Zahlen aus dem Jahr 2013, dass 57,9 Prozent aus der Wasserkraft kommen, 36,4 Prozent aus Kernkraftwerken. 2011 hat der Schweizer Bundesrat den sukzessiven Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen.

Was die Energiestrategie betrifft, so ist sie unter Branchenvertretern umstritten, weil die Kosten der Umsetzung kaum abschätzbar sind. Laut Studien würde sie einen dreistelligen Milliardenbetrag kosten. So verlieh Bundesrätin Doris Leuthard kürzlich ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Kernkraftwerke „möglichst lange am Netz“ blieben, weil sie günstigen Strom lieferten, was bei der Transformation des Energiesystems helfe. Vertreter der Wasserkraft hingegen plädieren, diese endlich hinsichtlich Förderung der Sonnen- und Windenergie gleichzustellen.

Angesichts dieser Diskussion hat nun noch die Schweizerische Nationalbank für Aufregung gesorgt, indem sie die Frankenbindung an den Euro aufgab. In einem schwierigen Umfeld gerate die Energiebranche weiter in die Bredouille, so Branchenvertreter.

Der Himmel in den Glarner Alpen weiß von solchen irdischen Problemen nichts. Und weiß er es, scheint es ihn nicht zu kümmern. In sattem Blau zeigt er sich auch in diesen Tagen. Und sieht geduldig zu, wie sich die Schweizer ein schier unzugängliches Stück ihrer Alpen untertan machen und unbeirrt auf den Produktionsstart hinarbeiten.

Compliance
Die Reise nach Linthal erfolgte auf Einladung des Alstom-Konzerns.

Zahlen

6400Watt braucht ein Schweizer Bürger heute. Jährlich produziert er etwa sechs Tonnen CO2.

2000Watt sollen einem Schweizer Bürger laut Energiestrategie in 35 Jahren jährlich zum Leben reichen. Die CO2-Produktion soll auf 1 bis 1,5 Tonnen sinken.

57,9Prozent des Schweizer Stromaufkommens wurden im Jahr 2013 von der Wasserkraft gedeckt.


36,4Prozent des Schweizer Stromaufkommens stammen aus der Kernkraft. Im Winter gar bis zu 45 Prozent.


5Kernkraftwerke
zählt die Schweiz. Laut Bundesratsbeschluss sollen sie am Ende ihrer Laufzeit stillgelegt und nicht ersetzt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2015)

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