Gastkommentar: Toleranz und Ignoranz

Eine allgemeine Zurückhaltung aus Sorge um die Position von Minderheiten führt leicht dazu, vor unangenehmen Wahrheiten zurückzuschrecken. Die Toleranz-Debatte am Beispiel der Niederlande.

Die Toleranz unserer liberalen Demo kratie kommt eher einer passiven Duldung als einem Akzeptieren des Andersseins des Anderen gleich. Sie grenzt deshalb oft an Ignoranz. Man akzeptiert etwas nicht, weil man noch weiß, dass Freiheit immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist.

Man hat vielmehr so viel mit sich selbst zu tun, dass man keine Energie darauf verschwenden möchte, sich über den Lebenswandel anderer Leute zu empören. Im Gegensatz dazu steht die Toleranz nach Voltaire: "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst."

In den Niederlanden wurde der Mord am Filmregisseur Theo van Gogh als Angriff auf die Toleranz betrachtet. Auch der Politiker Pim Fortuyn starb nach Ansicht vieler Niederländer als Mann des freien Wortes. Die Helden des Landes sind für viele niederländische Bürger nicht länger die Prediger einer passiven Duldung, sondern die Provokateure, die gegen politische Korrektheit zu Felde ziehen und gegen eine zur Ignoranz verkommene Toleranz protestieren.

Van Gogh wollte mit seinem Film "Submission", für den die islamkritische Politikerin Ayaan Hirsi Ali das Drehbuch schrieb, eine Diskussion über die Unterdrückung der Frau in der islamischen Welt lostreten.

Pim Fortuyn wiederum sah sich als unabhängiger Neuling, der sich von der etablierten, konsensorientierten Politik verabschiedet hatte und zu sagen wagte, was kein anderer Politiker sich traute zu sagen.

I
n unserer heutigen Gesellschaft steht die traditionelle Tugend der Toleranz unter Druck. Nicht nur radikale Islamisten bedrohen in unserer westlichen Demokratie die Freiheit des Wortes. Auch Unentschlossenheit und Unsicherheit der westlichen Gesellschaft selbst, und nicht zuletzt ihrer politischen Eliten, können eine große Gefahr darstellen. Wer sich nicht an seine eigenen kulturellen und moralischen Werte erinnert, wer jede Überzeugung einem indifferenten Pluralismus opfert, stellt für seine Feinde ein hilfloses Opfer dar.

Eine allgemeine Zurückhaltung aus Sorge um die Position von Minderheiten führt leicht dazu, vor unangenehmen Wahrheiten zurückzuschrecken.

Im Vergleich mit dem extravaganten Pim Fortuyn und dem Narr Theo van Gogh, der sich selber gerne als den "Dorftrottel" der Hauptstadt Amsterdam bezeichnete, wirken das Auftreten und die Aussagen von Ayaan Hirsi Ali, Hollands derzeit prominentester Islamkritikerin, bedachtsam.

Die gebürtige Somalierin Ali ist eine gebildete Akademikerin, die bei dem renommierten Professor Paul Cliteur an der Universität Leiden studiert hat. Dass auch diese Frau in zahlreichen Interviews im In- und Ausland das Wort "Toleranz" mit einem nahezu verächtlichen Unterton ausspricht, sollte zu denken geben. "Schluss mit der falschen Toleranz, mit einem Wegsehen im Namen eines Multikulturalismus, wenn dabei die Werte der Demokratie unter die Räder kommen. Das hat mit Respekt vor anderen Kulturen nichts zu tun." Europas Intellektuelle und Politiker würden gut daran tut, auf die Worte dieser streitbaren Frau zu achten.

Jerker Spits, Germanistikstudium in Leiden und Wien, arbeitet seit 2001 an der Uni Leiden. Publikationen in niederländischen und deutschsprachigen Zeitungen (Trouw, Parool, Frankfurter Rundschau).

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