Ungarns zwei Optionen: Bankrott oder Canossagang

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Symbolbild(c) AP (BELA SZANDELSZKY)
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EU-Kommission entscheidet am Dienstag über Vertragsverletzungsverfahren gegen Budapest. Es geht um drei Gesetze, die Notenbank, Justiz und Datenschutz betreffen. Der europäische Druck ist vielen Ungarn zuwider.

Budapest/Brüssel/Bo/Go. „Warum kommen ausgerechnet wir auf die Titelseiten der einflussreichsten Zeitungen der Großmächte?”, fragt Andrea Damm entgeistert. Dann stimmt die ungarische Juristin ein in Budapest häufig gehörtes Klagelied an: Ungarn sei in seiner Geschichte schon immer der „Willkür fremder Mächte” ausgeliefert gewesen, die „unsere Väter und Mütter” unterdrückt hätten. Die Juristin kommt schließlich zum Fazit, dass sich das Land aus dieser Abhängigkeit durch wirtschaftliche Selbstversorgung befreien müsse.

Die trotzige Haltung kommt nicht von ungefähr. Die EU-Kommission entscheidet heute, Dienstag, über mögliche Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Es geht um drei Gesetze, die Notenbank (MNB), Justiz und Datenschutz betreffen. In Sachen MNB und Justiz befürchtet die EU den Verlust von deren Unabhängigkeit. Die drei Rechtstexte wurden der neuen ungarischen Verfassung, die am 1. Jänner in Kraft trat, als sogenannte Zweidrittelgesetze beigefügt.

Jobbik will EU-Referendum

Der europäische Druck ist vielen Magyaren zuwider. Die rechtsradikale Partei Jobbik etwa, die bei den Parlamentswahlen 2010 mehr als 16 Prozent der Wählerstimmen erlangte, will ein Referendum über den Austritt Ungarns aus der EU abhalten. Laut Umfragen wäre ein solches Referendum sogar erfolgreich. Die Mehrheit der Ungarn ist mit der EU-Mitgliedschaft heute unzufrieden. Bei einer Kundgebung von Jobbik vor der Budapester Vertretung der EU-Kommission am vergangenen Wochenende wurde sogar demonstrativ eine EU-Flagge verbrannt.

Auch Ungarns Regierung ist willens, den Streit mit der Kommission bis zum Äußersten fortzuführen. Ein Vertragsverletzungsverfahren, das mit einer Verurteilung durch den Gerichtshof der EU sowie einer hohen Geldstrafe für das faktisch zahlungsunfähige Land enden könnte, sei „keine Tragödie“, erklärte der ungarische EU-Botschafter in Brüssel am Montag. Ob die Budapester Regierung so weit geht, werde aber erst nach der heutigen Veröffentlichung der Entscheidung der Kommission klar sein.

„Wir haben drei Optionen: Erstens, wir teilen die Einschätzung der Kommission. Zweitens, wir treten in einen Dialog, um zu sehen, wie sehr die Positionen der Kommission und Ungarns einander angenähert werden können. Drittens, und das ist auch keine Tragödie, wir nehmen ein Vertragsverletzungsverfahren auf uns“, sagte Botschafter Péter Györkös zu Brüsseler Korrespondenten.

Der Botschafter gab sich zugleich zuversichtlich, dass Ungarn wegen seiner Verletzung der EU-Defizitregeln ab dem Jahr 2013 kein Verlust der Kohäsionsförderungen droht. „Ich erwarte nicht, dass das Defizitverfahren 2013 fortgesetzt wird. Und damit wird die Bedrohung, dass die Kohäsionsfonds gestoppt werden, ausgeräumt.“ Er wies darauf hin, dass die Kommission selbst in jenem Szenario, das keine weiteren Sanierungsschritte durch die ungarische Regierung als Berechnungsgrundlage annimmt, für 2013 nur mit einem Defizit von 3,25 Prozent rechnet. Das verbleibende Viertelprozent über der Drei-Prozent-Grenze „ist lösbar“, sagte Györkös.

Auch bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) droht Ungemach. Laut Wirtschaftsexperten hat Ungarn höchstens bis zur Mitte des Jahres die Mittel, um sich finanziell über Wasser zu halten. Treibt die Regierung bis dahin kein Geld auf, droht der Staatsbankrott. Die Regierung von Viktor Orbán sieht sich nun also gezwungen, mit jenem IWF Verhandlungen über einen Kredit zu führen, den sie im Sommer 2010 zur Tür hinausbefördert hatte.

Lammfromm in Washington

Ungarn finanzierte sich in der Folge an den Finanzmärkten. Zuletzt sind aber auch diese Quellen versiegt, ein Canossagang zum IWF wurde unvermeidlich. Allerdings: Der Währungsfonds knüpft die Vergabe eines Kredits an strenge Auflagen. Haben Orbán und seine Regierung diese vor einigen Monaten noch brüsk abgelehnt, geben sie sich jetzt lammfromm. Sowohl Premier Orbán als auch der ungarische IWF-Chefverhandler Tamás Fellegi haben dieser Tage willfährig erklärt, mit dem IWF über die Modalitäten eines Kredits „so rasch wie möglich“ übereinkommen zu wollen. Außenminister János Martonyi wiederum deklarierte sich jüngst als glühender Anhänger der europäischen Idee. Um Verhandlungen mit Ungarn zu starten, ist der Währungsfonds allerdings auf das Einverständnis der EU-Kommission angewiesen. Diese dürfte aber wohl nur dann grünes Licht geben, wenn die Regierung alle umstrittenen Gesetze ändert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2012)

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