Arbeitslosigkeit in Spanien: Jugend am Ende

Arbeitslosigkeit Spanien Jugend Ende
Arbeitslosigkeit Spanien Jugend Ende(c) AP (Andres Kudacki)
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Die Arbeitslosigkeit in Spanien liegt bei 23,3 Prozent, auf den Inseln noch höher. Betroffen sind junge Menschen, die ihren Frust über den Verlust ihrer Zukunft in Bewegungen wie "Los Indignados" hinausschreien.

Frühmorgens ist der Sand frisch gereinigt und gerecht, der Himmel ein einziges Blau. Gegen zehn kommen die ersten Gäste, legen sich in die Sonne oder unter eine Palme am Strand von Arrecife. Ein Urlaubsidyll, wie man es sich als Tourist nicht besser wünschen könnte.

Für die Bewohner der Kanaren-Insel Lanzarote ist dieses Idyll allerdings trügerisch. Im Zentrum der Inselhauptstadt gibt es keine Straße ohne leer stehende Geschäfte; kein Gebäude, in dem nicht Wohnungen seit Monaten zu vermieten oder zu verkaufen sind. In den Restaurants sind die Preise unschlagbar: „Für fünf, sechs Euro bekommt man ein Menü mit einem Freigetränk“, sagt Ricardo Hernadez, ein waschechter „Conejero“ (Kaninchenzüchter), wie man die Bewohner Lanzarotes in Anlehnung an die wild auf der Insel lebenden Tiere nennt. „Vor einigen Jahren wäre das völlig undenkbar gewesen“, fügt der 35-Jährige hinzu. „Eben Krise total.“

Fast jeder Dritte ohne Job. Die Kanaren sind eine der 17 autonomen Regionen Spaniens – und eine, die von der Wirtschaftskrise besonders heftig getroffen wurde. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30,93 Prozent. Der Landesdurchschnitt beträgt zwar „nur“ 23,3 Prozent, macht Spanien aber dennoch zum Land Europas mit der höchsten Arbeitslosenrate. Vor Griechenland (19,9 Prozent), das nur mittels milliardenschwerer EU-Finanzhilfen vor dem Bankrott bewahrt wird.

„Für uns Spanier fand die Krise lange Zeit nur im Fernsehen statt. Zuerst der US-Immobilienmarkt, dann kamen die Banken“, erinnert sich der Tontechniker Ricardo. „Und plötzlich war die Krise auch bei uns.“ 2008 verlor Ricardo seinen festen Arbeitsplatz, schlug sich als DJ durch, als Kellner und als Koch. „Hier einmal zwei Monate, dort drei, mit Glück auch vier.“

Dieses Schicksal teilt er mit jedem zweiten Unter-35-Jährigen auf den Kanaren. „Auf den Inseln ist die Situation besonders schlimm“, meint Ricardo. „Wir sind eine verlorene Generation. Die besten Jahre unseres Lebens ziehen vorbei. Selbst für Jüngere wird das Ende der Krise zu spät kommen.“

Er denkt dabei an die Hunderttausenden, die jedes Jahr ihre Ausbildung beenden und von denen die Hälfte mehr oder weniger vor dem Nichts steht. Ein wachsendes Heer von Unzufriedenen – bereit, zu explodieren, wenn sich die Verhältnisse nicht bessern. Ricardo wohnt bei seiner Mutter und bekommt vom Staat 400 Euro monatlich Unterstützung. „Das hilft alles nur temporär“, sagt er. Bei den Eltern könne man nicht ewig wohnen, die Finanzhilfe sei auf 18 Monate beschränkt. „Glauben Sie mir, man wartet nur, wie sich die neue konservative Regierung von Premierminister Mariano Rajoy verhält. Und dann geht es wieder los.“

Der Sommer der Proteste. Ricardo spricht von „Los Indignados“, einer Bewegung, die aus verschiedenen sozialen Netzwerken hervorging. Am 15.Mai2011 begannen Demonstrationen in Madrid und in 58 weiteren spanischen Städten. Im Zentrum der Hauptstadt entstand ein Camp. Zwischen 6,5 und acht Millionen Menschen nahmen an den Protesten teil, die sich bis Anfang August hinzogen, bevor sie langsam abebbten (sagt RTVE, das öffentlich-rechtliche spanische Fernsehen). Ein Massenphänomen, das die internationale „Occupy“-Bewegung inspirierte, im September und Oktober öffentliche Plätze in New York, London, Berlin oder Wien zu besetzen.

„In Arrecife gab es ebenfalls Proteste und eine Platz-Besetzung der ,Indignados‘“, erinnert sich Ricardo. „Ich war öfter da. Aber mir fehlten ein Programm, konkrete Forderungen, eine Ideologie. Da wurden Joints geraucht und Bier getrunken. Ein bisschen wie Hippies. In Madrid war es nicht anders. ,Los Indignados‘ sind aus einem Gefühl entstanden. Das ist eine emotionale Bewegung.“

»Wir sind gegen alles.« Ähnlich sieht das auch Enrique Gil Clavo, Soziologe und Politologe an der Madrider Complutense-Universität. Auf der Plaza del Sol habe alles angefangen, sagt Clavo, an diesem symbolträchtigen Ort für Spanien. Zu Sylvester wird das neue Jahr an der großen Uhr am Platz abgelesen und in jedes spanische Wohnzimmer live übertragen. Dazu isst man Trauben in der ersten Minute des neuen Jahres. Zigtausende junge Menschen protestierten hier am 15.Mai zum ersten Mal. „Wir sind gegen das System, gegen alles, gegen die Banken, die Regierung, Arbeitslosigkeit, gegen alles was Sie wollen, denn nichts funktioniert“, versicherte man Gil Clavo an diesem Tag.

Eine gefühlsorientierte Bewegung sei das gewesen, sagt der Soziologe, ohne konkrete Ziele. „Die spanische Jugend war davor vollkommen apolitisch und desinteressiert. Mit der ,Indignados‘-Bewegung wurde eine politische Leidenschaft wiedererweckt.“ Eine Re-Emotionalisierung der Politik, ein Akt der Re-Partizipation an öffentlichen Belangen. Und das sei monatelang gefeiert worden „wie Flitterwochen“. Ausgerechnet diese spontane, ebenso diffuse wie heterogene Bewegung habe den Konservativen zum Wahlsieg verholfen. „Ob man wollte oder nicht, die Kritik am System war auch eine Kritik an der damals regierenden Sozialistischen Partei.“ Im November gewann die Partido Popular 186 der insgesamt 350 Sitze im Parlament und machte Mariano Rajoy zum neuen Premierminister.

Aus der Traum? Erst das Ende der Jugendträume, jetzt das Ende des Protests? „Die ,Indignados‘ machen doch schon lange keine Schlagzeilen mehr“, meint Gil Clavo. Kürzlich habe eine Splittergruppe ein Haus besetzt, auf den Kanaren engagierten sie sich gegen die Ölförderung. „Aber sonst?“, fügt der Soziologe hinzu. „Kann sein, dass sie nur auf den richtigen Augenblick warten, die Massen zu mobilisieren.“

Weniger nüchtern sieht das Ricardo auf Lanzarote. Seit Jahren arbeitslos, hofft er auf eine Renaissance der ,Indignados‘ und auf eine Wende. Nicht nur deshalb unterstützt auch er den Protest gegen die kürzlich erteilte Bohrgenehmigung für die Ölfirma Repsol. „Nur 60 Kilometer vor der Küste Lanzarotes, das ist doch der Wahnsinn“, sagt er verärgert. „Ein Fehler und der Rest der Arbeitsplätze ist auch weg.“

Doch selbst wenn die Situation so schlecht bleibt, hat Ricardo noch eine Karte im Ärmel. Ob es ein As ist, weiß er selbst nicht. Er überlegt ernsthaft, ins Ausland zu gehen, inspiriert von TV-Dokumentationen über Finnland, Schweden, Deutschland und Österreich. „Erst vor Kurzem zeigten sie einen Madrilenen, der als Kellner in Wien gearbeitet hat.“ Der zumindest konnte Österreich nur empfehlen: „Gute Arbeit, gutes Geld.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2012)


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