Ökonom Guriew: „Wir könnten besser leben“

Sergej Guriew (Archivbild)
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Russlands renommiertester Ökonom Sergej Guriew ist aus Angst vor Repressalien nach Paris geflüchtet. Den Glauben an Russland hat er nicht verloren.

Paris. Dass sich Russlands renommiertester Ökonom und Leiter der New Economic School (NES) Sergej Guriew mit dem russischen Regime angelegt hätte, kann man so nicht sagen. Was immer er von sich gab, fußte auf seiner liberalen Grundüberzeugung. Als Mathematiker und Ökonom hat der 41-Jährige gemacht, was er am besten kann: rechnen und logisch denken. Das kann in einem autoritären System schon zu viel sein. Vor allem, weil der Betreffende – auf Einladung von Medwedjew – 2011 eine Expertise erstellte, in der die Inhaftierung des Putin-Feindes und Oligarchen Michail Chodorkowski als grundlos bewertet wird. Nun kam die Rache der Ermittler. Jüngst beschlagnahmten sie rechtswidrig seinen E-Mail-Verkehr. Guriew wusste die Gefahr zu deuten und verließ über Nacht das Land.

Die Presse: Was empfinden Sie, wenn Sie von hier auf Russland blicken?

Sergej Guriew: Es kränkt mich, dass ich wegen meiner schnellen Abreise viele Verpflichtungen gegenüber meinen Kollegen in der NES nicht ausführen konnte. Als Ökonom finde ich es kränkend, dass Russland sein Wachstumspotenzial nicht nützt.

Sie kennen die Elite bis hinauf zu Medwedjew und Putin. Haben die Ermittler solchen Auftrieb, dass Ihnen kein Schutz hätte helfen können?

Ich weiß es nicht. Aber dass die Ermittler völlig unbegründet meine elektronische Post einzogen, gab mir das Gefühl, dass sie sich für unumschränkt halten. Sie agierten unerwartet hart. Und ich habe vermutet, dass das nächste Treffen mit ihnen gefährlich wird.

Sie haben den von Hannah Arendt geprägten Begriff von der „Banalität des Bösen“ erwähnt. Wie sieht diese in der Beamtenschaft aus?

Ich habe viele Leute gesehen, die nicht daran denken wollen, was mit ihrer Reputation geschieht, wenn sie bei ungesetzlichen Aktionen mitmachen. Die gegen mich ermittelten, waren keineswegs verrückt. Sie waren völlig normal. Aber irgendwie haben sie sich davon überzeugen können, dass der Gesetzesbruch eine Normalität ist.

Putin sagte, es werde Ihnen 100-prozentig nichts geschehen, wenn Sie kein Gesetz übertreten haben: Was ist sein Wort wert?

Mir gefällt, was er gesagt hat. Als freier Mensch habe ich eben entschieden, nicht zurückzukehren. Wahrscheinlich ist das von seinem Standpunkt aus 100-prozentig. Von meinem aus nicht.

Wie empfinden Sie das Russland-Bild in Europa?

Die Medien berichten im Großen und Ganzen die Wahrheit. Gewiss, gute Nachrichten werden kaum publiziert. In diesem Sinn nimmt Europa Russland schlechter wahr, als es ist. Aber nicht viel schlechter.

Was muss Putin mehr fürchten: den Unmut der Opposition oder die wirtschaftliche Stagnation?

Mir scheint, dass diese Aspekte miteinander verbunden sind. Denn Reiche gibt es in Russland relativ wenige, die nicht Reichen aber sind materiell unzufrieden, nicht mit dem Mangel an politischer Freiheit. Und die Gefahr der Rezession besteht wirklich.

Warum ist der relativ hohe Ölpreis kein Motor für das Wachstum mehr?

Der Ölpreis ist zwar hoch, aber er wächst nicht. Für weiteres Wachstum braucht man entweder einen steigenden Ölpreis oder höhere Investitionen und Produktivität. Die wird es ohne Kampf gegen die Korruption und ohne Verbesserung des Geschäftsklimas nicht geben. Das ist das Hauptproblem.

Manche meinen, das Wachstum verlangsame sich, weil Schwellenländer wie Russland eben ihren „Vorteil des Nachzüglers“ verlieren, wenn sie in der „Falle des mittleren Einkommens“ landen.

Eben nicht. Zwar ist eine Verlangsamung entsprechend dem Ausmaß, wie der Abstand zu den entwickelten Staaten schrumpft, normal, wie wir an China sehen. Aber ein Wachstum von einem Prozent (im ersten Quartal wuchs Russlands BIP mit 1,6 Prozent, Anm.) in Russland ist nicht normal. Russland kann doch nicht langsamer wachsen als Amerika! Es zeigt sich, dass Russland es nicht schafft, seine wirtschaftlichen und politischen Institutionen zu reformieren. Gäbe es gute Institutionen und keine Korruption, dann hätten wir durchaus fünf Prozent.

Das politische System bremst also die Wirtschaft.

Wahrscheinlich kann man auch bei dem bestehenden höheres Wachstum erzielen. Es gibt Staaten, die auch ohne Demokratie die Korruption beseitigt haben – siehe Singapur.

Ist in Russland der deklarierte Kampf gegen Korruption also nur verbal?

Ich denke, dass Putin ihn aus vollen Kräften zu führen versucht. Es gibt auch beispiellose Aktionen auf hoher Ebene. Aber danach zu urteilen, wie sich die Unternehmer fühlen und dass Kapital ab- statt zufließt, wird der Kampf als nicht erfolgreich wahrgenommen.

Ich habe das Gefühl, dass Sie Putin verteidigen. Wo steckt dann die Karre fest?

Das müssen Sie Putin fragen.

Die Mechanismen des Nichtfunktionierens kennen Sie wahrscheinlich genauso.

Ich verstehe sie und habe meine Vermutungen, will aber nicht öffentlich darüber reden.

Warum?

Weil jemand gekränkt sein würde.

Sie meinen, der Fisch beginnt beim Kopf zu stinken?

Ich möchte dazu nichts sagen.

Wirtschaftsminister Belousov hat gemeint, Russland habe nur noch fünf Jahre Zeit, um Reformen umzusetzen. Danach drohe ein Ölpreisverfall.

Der Ölpreis kann immer verfallen. Aber schade, dass wir jeden Tag unser Potenzial liegen lassen. Wir könnten besser leben.

Sie haben auch schon davor gewarnt, dass sich das Schicksal der Sowjetunion wiederholen könnte und Russland zerfällt.

Ja. Das Schicksal wäre eben, dass Russland im Staatsbankrott landet. Griechenland ist auch dort gelandet.

Wie kann man schnell Wachstum generieren?

Ein schneller Schritt nach vorn wäre etwa die Amnestierung inhaftierter Unternehmer. Aber die Machthaber wollen das nicht.

Erwarten Sie, dass Russland den europäischen Weg geht und ebenfalls die Geldpolitik lockert?

Ich denke, das ist eine ganz andere Geschichte. In Europa und den USA drucken die Zentralbanken Geld, um Inflation zu produzieren. In Russland ist die Inflation auch so sehr hoch. Die russische Zentralbank hat die Aufgabe, die Inflation zu bekämpfen.

Angesichts der Schuldenkrise in Europa ist es üblich geworden, Europa im globalen Wettbewerb immer mehr abzuschreiben. Teilen Sie die Ansicht?

Ich denke nicht, dass man Europa abschreiben muss. Es wird nur langsamer wachsen als die Schwellenländer. Und das ist völlig normal. Europa ist nach wie vor eine starke Ökonomie – und was das Wichtigste ist, ein attraktiver Lebensstil. Man soll nicht denken, dass man in absehbarer Zeit in China so gut leben kann wie heute in Europa.

Halten Sie die Talsohle der Krise für durchschritten?

Nein. Letztendlich ist das Hauptproblem in Europa die Arbeitslosigkeit – speziell die der Jugend. Es braucht eine Reform des Arbeitsmarktes, eine ernsthafte Deregulierung und einen Schutz des Wettbewerbs.

Glauben Sie an Russland?

Langfristig ja.

Langfristig heißt?

Das sage ich nicht.

2018, wenn Putins Amtszeit endet?

Jede diesbezügliche Aussage würde mir als Verschwörungsabsicht gegen Putin ausgelegt, was mir manche ohnehin schon anlasten.

Zur Person

Sergej Guriew (41) gilt als einer der profiliertesten Ökonomen Russlands. Neun Jahre lang war er Rektor der New Economic School in Moskau. Weil er sich für eine Enthaftung des Kreml-Kritikers Michail Chodorkowski aussprach, wurde er von Ermittlern einvernommen. Er floh nach Paris, wo seine Frau arbeitet. Guriew legte nun das Amt des Rektors sowie mehrere Aufsichtsratsposten zurück. So saß er etwa im Kontrollgremium der Sberbank.

„Ich habe vermutet, dass das nächste Treffen mit ihnen gefährlich wird.“

Sergej Guriew
über seine Bekanntschaft mit russischen Ermittlern

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2013)

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