Brasilien: Das Ende der Konsumfiesta

General view of Rio de Janeiro with Copacabana beach and Pavao-Pavaozinho slum in the background
General view of Rio de Janeiro with Copacabana beach and Pavao-Pavaozinho slum in the backgroundREUTERS
  • Drucken

Die Wirtschaft Brasiliens wächst kaum, die Investitionen stottern, die Inflation steigt rasant. Das bisherige Wirtschaftsmodell scheint erschöpft.

Just in dieser Woche, in der sich die Weltpresse nach Brasilien aufmachte, entbrannten die ersten sozialen Proteste seit vielen Jahren. Kurz vor dem Anstoß zum Confederations Cup, dem Testlauf zur Fußball-WM in einem Jahr, erlebten Rio de Janeiro und vor allem São Paulo Szenen, die an den Taksim-Platz von Istanbul erinnerten. Offene Gefechte zwischen Demonstranten und Ordnungskräften, etwa hundert ausgebrannte öffentliche Busse und ein äußerst brutaler Polizeieinsatz am Donnerstagabend.

Entzündet hatte sich der Protest am Beschluss, die Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr um sechs Prozent zu erhöhen, auf umgerechnet 1,12Euro pro Ticket, das drei Stunden gültig ist. Für viele ist das ein massives Problem. Da es keine Monatskarten gibt, muss ein Paulista, der sechsmal pro Woche zur Arbeit fährt und dessen Reisezeit im Verkehrschaos von São Paulo gelegentlich drei Stunden übersteigt, 60 Euro monatlich für Tickets kalkulieren. Der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 238 Euro im Monat.

Bürgermeister und Gouverneur verteidigten die Preiserhöhung mit dem Argument, sie liege unterhalb der Inflationsrate. Damit haben sie recht. Und das ist das größte Problem Brasiliens: Die Teuerung beträgt derzeit 6,5Prozent, was weitaus mehr ist als jene maximal 4,5 Prozent, die Regierungschefin Dilma Rousseff anvisiert. Der Preisauftrieb bringt vor allem jene 20 bis 30 Millionen Brasilianer in Schwierigkeiten, die während des vergangenen Jahrzehnts den Aufstieg aus der Armut in die Mittelklasse schafften.

Diese Erfolge der Ära Lula erregten die Fantasien vieler internationaler Unternehmen und Investoren. Doch das Land konnte die Erwartungen nicht erfüllen. 2013 wird das dritte Jahr sein, in dem das Wachstum stottert. Um 2,5Prozent wuchs die Volkswirtschaft 2011, nur 0,2 Prozent 2012, und für heuer werden nicht mehr als 2,5 Prozent erwartet. Es scheint, als sei das Lula-Wirtschaftsmodell erschöpft.


Familien sind verschuldet. Dieses setzte vor allem auf die Erschließung eines soliden Inlandsmarktes, getragen von der neuen unteren Mittelklasse. Nach einer – vor allem in der zweiten Amtsperiode Lulas von 2007 bis 2010 mit großzügigen staatlichen Förderungen finanzierten – Konsumfiesta haben etwa 50 Millionen Menschen neue Eiskästen, Stereoanlagen, Motorräder und Autos, manche haben ihre Behausungen ausgebaut oder einen ersten Auslandsurlaub gemacht. Doch nun sind 62 Prozent der Familien verschuldet, mit 46 Prozent ihres Haushaltseinkommens. Obwohl Lulas Nachfolgerin Rousseff weiter mit Krediten und Steuererleichterungen nachhalf, kaufen die Brasilianer nur noch zurückhaltend. Die Industrie dümpelt. Einziger Wachstumssektor ist die Landwirtschaft, die mit 9,5 Prozent anzog. Doch das ist auch nur beschränkt gut. Denn die gestiegenen Lebensmittelpreise spüren vor allem die Armen. Und die flaue Konjunktur hat den lange so starken Real absinken lassen. Nun ist ein Dollar noch 2,20 Reais wert, 2009 lag die US-Devise bei 1,50. Der Verfall hilft den Exporteuren, aber er verteuert die Importe. Auch das treibt die Inflation.

Nun hat die Zentralbank erstmals wieder den Leitzins angehoben, von 7,5 auf acht Prozent. Nach dem Nachgeben der Währung hat die Regierung auch die Sondersteuer auf ausländische Finanzinvestitionen gestrichen, die in der Boom-Phase einführt wurde, um die Dollarflut zu bremsen. Nun sind ausländische Dollars wieder gefragt, um endlich Fortschritte bei den dringend notwendigen Investitionen in Infrastruktur und Bildung zu machen. 2012 legte Rousseff einen Plan vor, um die schwache Investitionsquote von zuletzt 18,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen. Doch viele Firmen klagen, dass Bürokratie und staatliche Eingriffe private Infrastruktur-Investitionen immer noch erschweren.

Nun bekommt erstmals auch die Regierungschefin zu spüren, dass ihre Landsleute nicht mehr so zufrieden sind. In einer Umfrage des Instituts Datafolha verlor Rousseff acht Prozent Zustimmung, der erste Rückgang, seit sie 2011 die Regierung übernahm. Noch liegt sie bei 57 Prozent. Gestern, Samstag, war Anstoß bei der WM-Generalprobe. Die Performance von Brasiliens Nationalmannschaft war in den letzten drei Jahren ähnlich durchwachsen wie die seiner Volkswirtschaft. Es ist höchste Zeit für eine Trendwende. In einem Jahr rollt der Ball bei der Fußball-WM. Und drei Monate später wird gewählt.

In Zahlen

2012 wuchs Brasiliens Volkswirtschaft nur um 0,2 Prozent, für heuer werden 2,5Prozent erwartet.

238 Euro beträgt der Mindestlohn, davon muss ein Angestellter in São Paulo allein 60Euro monatlich für Fahrscheine kalkulieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Protest Brasilien Demonstrant Auto
Außenpolitik

Millionen-Protest in Brasilien: Polizei verliert die Kontrolle

Bürgerkriegsähnliche Zustände in Brasilien: Eine Million Menschen gehen auf die Straße. Die Polizei setzt Tränengas und Gummigeschoße ein. Es gibt das erste Todesopfer.
BrasilienProteste Pele legt sich
Fußball

Brasilien-Proteste: Pele legt sich mit Demonstranten an

Die Fußball-Legende empört ihre Landsleute mit dem Aufruf, "all diese Proteste zu vergessen" und sich auf den Fußball zu konzentrieren.
Brasilien Ausschreitungen Paulo
Außenpolitik

Brasilien bringt Militär gegen Proteste in Stellung

Bei den Testspielen für die Fußball-WM soll nun die Armee für Sicherheit sorgen. Die Proteste gegen soziale Missstände sind Dienstagabend teilweise eskaliert, es kam zu Plünderungen und Brandstiftungen.
Generation Lula begehrt
Außenpolitik

Brasilien: Die Generation Lula begehrt auf

Seit 30 Jahren sah Brasilien nicht mehr solche Massenproteste. Auf die Straße treibt es ausgerechnet die neue Mittelschicht, die Expräsident Lula aus der Armut hob.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.