Krise: Die griechische Zeitbombe

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Die Arbeitslosenquote in Griechenland liegt bei knapp 28 Prozent. Doch dem Staat ist die Kontrolle über den Arbeitsmarkt entglitten. Familiäre Netzwerke müssen den Sozialstaat ersetzen.

Athen. Griechenland macht bei der Sanierung seines Haushalts zwar kleine Fortschritte. Der Troika, bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, gehen die Bemühungen aber nicht weit genug. Im kommenden Jahr klafft im Budget eine Lücke von zwei Mrd. Euro. Daher drohen die internationalen Gläubiger damit, ihren nächsten Kontrollbesuch in Athen zu verschieben.

Doch viele Griechen können keine weiteren Belastungen mehr in Kauf nehmen. Das Land steckt seit sechs Jahren in einer Rezession. Und die Arbeitslosenrate ist auf fast 28 Prozent gestiegen. Wer heute in Griechenland ohne Job dasteht, muss damit rechnen, dass er auch in den kommenden Jahren keinen finden wird. „Wenn die Arbeitslosenrate einmal 25 Prozent überschritten hat, dann gibt es keine Medizin mehr“, sagte kürzlich ein ranghoher EU-Beamter. Dann greifen auch keine Beschäftigungsprogramme mehr. Für den 6. November haben die griechischen Gewerkschaften einen Generalstreik gegen weitere Sparmaßnahmen ausgerufen.

Derzeit sind in Griechenland 1,4 Millionen Menschen arbeitslos, beim Arbeitsamt gemeldet hat sich eine Million. Doch nach einem Jahr, in Ausnahmefällen nach zwei, verliert ein Arbeitsloser seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld in Höhe von 360 Euro (im zweiten Jahr 200 Euro). In Zahlen: Im August gab es eine Million eingetragene Arbeitslose, davon bezogen knapp 146.000, also gerade einmal 15 Prozent, Arbeitslosengeld.

Ein Drittel von Armut bedroht

Unbeschränkte Kassenleistungen gibt es nur für Arbeitslose ab 55 Jahren. Für alle anderen ist nach zwei Jahren Schluss. Dann bleibt nur noch die Möglichkeit einer rudimentären medizinischen „Notstandsversorgung“. Für Freiberufler – Griechenland hat den größten Anteil an Selbstständigen in der ganzen EU – gab es bisher überhaupt keine Arbeitslosenversicherung. Im April 2013 wurde sie eingeführt, die wenigsten sind bezugsberechtigt. Jugendliche Schulabgänger melden sich oft erst gar nicht beim Arbeitsamt. Kaum besser stehen freilich jene hunderttausenden Arbeitnehmer da, denen die Arbeitgeber oft über Monate das Gehalt schuldig geblieben sind. Ein Drittel der griechischen Haushalte ist akut von Armut bedroht.

Für viele hängt heute das Überleben von außerstaatlichen, informellen Netzen ab, die in Griechenland noch vorhanden sind. Aber längst nicht mehr für alle, wie die große Zahl der „neuen“ Obdachlosen zeigt. Betroffen von der Arbeitslosigkeit sind alle Schichten.

Aber während die einen darum kämpfen, das Gesicht zu wahren, und sich damit begnügen, die Kinder von der teuren Privat- in eine öffentliche Schule zu transferieren, wandeln andere bereits am Abgrund: alleinerziehende Arbeitslose, Familien ohne Einkommen und mit hohen Wohnungskrediten, Schwerkranke, vereinsamte Pensionisten. Sie alle kämpfen um das nackte Überleben.
„Ich habe meine Wohnung aufgegeben und wohne wieder bei meiner Mutter“, sagt etwa die 40-jährige Maria, früher Leiterin einer Starbucks-Filiale. Ihre Schwester hat dasselbe getan, die Familie ist wieder vereint – wenn auch alle etwas älter geworden sind. Viele sind zurück aufs Land gezogen, dort gibt es zwar keine Arbeit, aber die Lebenshaltungskosten sind geringer als in der Großstadt.

Die meisten Griechen verfügen über Eigentumswohnungen, in Krisenzeiten ein rettender Strohhalm: 85 Prozent der Arbeitslosen leben laut dem Institut für Arbeit bei Eltern oder anderen Verwandten. Nur 37 Prozent können aber finanziell auf die ebenfalls verarmte Familie zurückgreifen, 25 Prozent leben vom Ersparten, neun Prozent von der Abfertigung und weitere neun Prozent von Freunden, der Rest vom Arbeitslosengeld. Wieder andere wagen den Sprung ins Ausland.

Banken werden freundlicher

Höchst informell ist die Schwarzarbeit, die sich trotz schärferer Kontrollen wie ein Flächenbrand ausweitet. Viele Arbeitssuchende pfeifen auf die offiziellen Bruttomindestlöhne von 586 Euro und ziehen illegale Beschäftigungsverhältnisse außerhalb des Systems vor. Die Senkung der Mindestlöhne hätte den Arbeitsmarkt beleben sollen – zu sehen ist davon nichts.

Ungewöhnlich freundlich sind in den letzten Monaten die Telefonisten von Geldeintreibungsfirmen. Banken, Versicherungen, Handyfirmen und andere Gläubiger haben erkannt, dass Drohungen nichts bringen: Millionen wollen und können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Wenn etwa Banken die mehr als 30 Prozent faulen Kredite hochgehen lassen würden, dann wären vor allem sie selbst bankrott. „Ich zahle nach Prioritäten“, hört man von allen Seiten, „Bleibe ich die Miete schuldig, kann ich den Arzt bezahlen. Zahle ich die Miete, bleibe ich die Rate für die Abzahlung meiner Kreditkarte schuldig.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2013)

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