Schlaflose Nächte für Monsieur Piketty

Thomas Piketty, French economist and academic, poses in his book-lined office at the French School for Advanced Studies in the Social Sciences (EHESS), in Paris
Thomas Piketty, French economist and academic, poses in his book-lined office at the French School for Advanced Studies in the Social Sciences (EHESS), in ParisREUTERS
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In Deutschland findet der Bestseller des französischen Starökonomen keine Gnade. Selbst für den linken Wirtschaftsweisen Peter Bofinger hat sich der Kollege mit Fehlschlüssen "ins Knie geschossen".

Peter Bofinger kann über den französischen Kollegen nur den Kopf schütteln: „Würde ich feststellen, dass meine Theorie und meine Zahlen derart auseinandergehen, hätte ich schlaflose Nächte.“ Ist womöglich Neid auf Thomas Piketty im Spiel, wenn der deutsche Wirtschaftsweise im „Spiegel“ so hart urteilt? Neid, finden manche abfällig, sei auch der Grund für den Welterfolg von „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, wo es ja nur um die Kluft zwischen Arm und Reich geht.

Auch wir Journalisten kennen Neid. Ständig werden wir ermahnt, uns kurz zu halten und nur ja keine Formeln zu verwenden, weil das die Leser vertreibe. Und was macht dieser französische Ökonom? Er schreibt einen schwer fassbaren 700-Seiten-Wälzer, der erst im November auf Deutsch erscheint und sich schon in der englischen Übersetzung verkauft wie warme Semmeln. Damit macht der „neue Marx“ nicht nur sich selbst, sondern auch eine Formel berühmt, um die sich plötzlich alles dreht: r>g. Die Kapitalrendite, der Zinssatz auf das Vermögen, sei auf Dauer höher als das Wachstum der Volkswirtschaft. Damit sei bewiesen: Die Vermögenden werden immer reicher; wer von seiner Hände Arbeit lebt, bleibt auf der Strecke. Und wenn der Staat nicht mit konfiszierenden Vermögenssteuern eingreift, sei der Kapitalismus bald gescheitert.

Enttäuschte Sympathie. Diese steile These hat so manche amerikanische Kollegen in Entzücken versetzt, allen voran Nobelpreisträger Paul Krugman. In Pikettys Heimat geht es viel ruhiger zu. Wohl auch deshalb, weil er als Vordenker der Sozialisten und des Präsidenten Hollande bekannt ist, deren Wirtschafts- und Finanzpolitik – mitsamt Reichensteuern – als spektakulär gescheitert gilt. Schroffe Ablehnung schallt Piketty von der anderen Rheinseite entgegen: Kein deutscher Ökonom von Rang, der dem neuen Star seine Referenz erwiese. Sinn, Feld, Homburg, Hüther, Fuest: Die Reihen der Kritiker sind dicht geschlossen.

Nun sind das meist stramme Angebotstheoretiker, die das Heil selten in neuen Steuern sehen. Überraschen aber muss die Kritik von Bofinger, dem prominentesten linken Ökonomen der Bundesrepublik: Mit seinen „Fehlschlüssen“ habe sich der Kollege „ins Knie geschossen“. Und in der linksliberalen „Zeit“, die Pikettys Thesen erst andächtig wie Dogmen präsentierte, heißt es nun unter Berufung auf Bofinger: „Selten ist ein Buch so überschätzt worden.“ Pikettys Argumente seien dünnbeinig, abenteuerlich, bizarr.

Worauf sind die enttäuschten Sympathisanten da bei genauerer Lektüre gestoßen? Piketty verteidigt seine Formel nicht mit Logik und Mathematik, sondern mit empirischen Daten. Bis zu Christi Geburt geht er zurück, um anhand von naturgemäß sehr lückenhaftem Material zu zeigen, dass r>g immer gegolten hat. Außer, ausgerechnet, im weitaus am besten dokumentierten Zeitraum: Von 1913 bis heute, als der Kapitalismus sich so richtig entfaltete, war und ist die Kapitalrendite meist niedriger als das Wirtschaftswachstum. Zumindest dann, wenn man die Erträge nach Steuern nimmt (siehe Grafik). Nur diese verfügbaren Mittel sind auch gemeint, wenn man arm und reich vergleicht.

Kühne Prognosen. Dennoch operiert Piketty fast nur mit Zahlen vor Steuern. Für die fernere Vergangenheit gibt es zu gezahlten Steuern kaum Daten, und der Autor glaubt, sie vernachlässigen zu können, weil sie niedrig waren. Für das 20. Jahrhundert zeigt er, dass vor Steuern die Rendite so wie früher höher war als das Wachstum. Mit Sicherheit zeigt das nur eines: dass die Umverteilung durch progressive Steuern bestens funktioniert hat und bis heute funktioniert. Pikettys Pointe ist aber eine ganz andere. Er zieht aus den jüngsten Daten – deren Brauchbarkeit die „Financial Times“ heftig bestreitet – den Schluss, die historische Ausnahmesituation werde bald vorbei sein. Kühn sieht er voraus, dass bis zum Jahr 2200 die Kapitalrendite auch nach Steuern meist weit über dem Wachstum des Volkseinkommens liegen werde – wenn nicht massive Reichensteuern der Ungerechtigkeit ein Ende setzten.

Mit solch gewagten Prophezeiungen haben vorsichtige deutsche Volkswirte durch die Bank ein Problem. Sie wissen, wie falsch sie oft schon mit Prognosen für das nächste Jahr liegen. Bofinger ist aber auch logisch irritiert, wie er in der „FAZ“ erklärt: Mit seinen Statistiken will Piketty für die Nachkriegszeit zeigen, dass das Verhältnis des Kapitals zum Volkseinkommen steige, der Reichtum sich also immer stärker bei den Vermögenden statt bei den Fleißigen konzentriere. Das aber widerspricht dem eingestandenen Faktum, dass in dieser Zeit die Kapitalrendite nach Steuern niedriger war als das Wachstum. Also was jetzt?

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Der Spartrick. Dahinter steht ein grundsätzlicher Einwand, den marktliberale Ökonomen wie Stefan Homburg und Hans-Werner Sinn trommeln. Dass r>g vor Steuern auf lange Sicht gilt, wolle niemand bestreiten. Die Formel sei harmlos, gar nicht originell, ein „alter Hut“. Auch Laien leuchtet sie intuitiv ein: Im Mittelalter etwa gab es kein Wachstum, aber sehr wohl Erträge auf Grundbesitz. Brisant wird es erst, wenn Piketty daraus ableitet, dass die Relation von Vermögen zu Einkommen steigt, das Kapital also schneller wächst. Gesichert wäre dieser Schluss aber nur dann, wenn die Vermögensbesitzer alle Erträge weiter ansparen und nichts für Konsum (oder Spenden) ausgeben. Dann wären sie schwerlich zu beneiden, weil sie von ihrem Reichtum nichts hätten, höhnt Homburg.

Dass diese Annahme „völlig verrückt“ sei, räumt auch Piketty in einem „FAZ“-Interview in anderem Zusammenhang ein: „Der Reiz des Kapitaleigentums besteht ja gerade darin, dass man mit seiner Hilfe viel konsumieren kann.“ In seinem Buch betont er aber: Die Superreichen würden den größten Teil sparen, weil sie gar nicht so viel konsumieren könnten. Damit leitet er sachte dazu über, dass die Vermögenden davongaloppierten. Aber das Vermögen einer Gesellschaft umfasst weit mehr als die Schätze der Milliardäre, nämlich jede vermietete Wohnung und jeden Bausparvertrag. Ein unbewusster Trick, das zu unterschlagen? In der „FAZ“ schätzt Piketty, der Widersprüche nicht scheut, dass vier Fünftel der Kapitalerträge konsumiert würden. Dann aber impliziert r>g keineswegs zwingend eine wachsende Kluft. Alles hängt dann von empirischen Daten ab, auf die sich Piketty zu Recht konzentriert. Aber sie geben, so das mehrheitliche Fazit der deutschen Ökonomen, so wenig her, dass er bei fragwürdigen Spekulationen Zuflucht suchen muss.

Im Interview schraubt Piketty auch die Heilserwartungen an ihn herunter. Den Kapitalismus werde er wohl kaum vom Thron stoßen. Er bewundere ihn sogar. In echter Gefahr sieht er ihn nur in den USA: „Ich würde nie behaupten, dass eine ungleiche Vermögensverteilung heute das wichtigste Problem in Europa wäre.“ Damit bleibt seine Analyse im Grunde ein politisches Plädoyer für höhere Steuern. Lars Feld kontert politisch-polemisch: „Hauptsache, mehr Staat – das fatale französische Rezept“.

Steckbrief

Peter Bofinger
(59) ist der einzige „linke“ Ökonom unter den fünf deutschen Wirtschaftsweisen. Seine „anderen Meinungen“ in den Gutachten haben ihn bekannt gemacht.

Thomas Piketty
(43) lebt und lehrt in Paris. Mit seinem kapitalismuskritischen Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ macht der neue Starökonom vor allem in den USA Furore.

Reuters, DPA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2014)

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