Es trügt das deutsche Biergefühl

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Die ganze Welt schwärmt vom deutschen Bier und seinem Reinheitsgebot. Aber der Konsum im Inland geht immer weiter zurück. Der Einheitsgeschmack drückt den Preis. Kleine Brauer planen nun eine Revolution.

Fast feierlich stecken die Experten ihre Nasen in die Kelche. Nach dem Probeschluck ringen die Meister der Braukunst um Worte. Das dunkle Wiener Lagerbier, befinden sie endlich, es besteche durch seine leichte Röstmalznote, den Hauch von Toast. Sie loben die feine Balance mit dem bitteren Hopfen, der die Süße dämpft, damit die geschmackliche „Wucht nicht erschlägt“. Die kredenzte Rarität ist in ihrer österreichischen Heimat längst vergessen. Aus Mexiko hat sich Oliver Lembke das Rezept für seine Berliner Gasthausbrauerei verschafft. Schon naht der nächste Gaumenkitzel: ein Indian Pale Ale aus vier Hopfensorten, das intensiv „wie ein Obstkorb“ nach Pfirsich und Litschi dufte. Und das Imperial Stout, das lauwarm und sprudelfrei aus dem Barriquefass kommt, mit dem Alter besser wird und an Portwein erinnert.

Eineinhalb Jahre lang hat Lembkes Team an den neuen Sorten experimentiert. Nun sitzen alle mit Kollegen aus der großen Kindl-Schultheiss-Brauerei und Funktionären des Brauverbands unter den wuchtigen Gewölben der S-Bahn-Bögen. Was nur als Jubelpräsentation für ausländische Journalisten geplant war, gerät beim likörartigen Eisbock mit weit über 20 Prozent Alkohol zum profunden Grübeln über die Zukunft des deutschen Bieres.

Denn die Lage ist ernst: Seit dem Fall der Mauer ist der Pro-Kopf-Konsum um ein Viertel zurückgegangen. Nur mehr 106 Liter trinkt der Durchschnittsdeutsche pro Jahr. In den Glanzzeiten Mitte der Siebzigerjahre waren es noch 45 Liter mehr. Von den größeren Brauereien haben über ein Drittel nicht überlebt. Ein erbitterter Wettbewerb drückt die Preise.

Kein Exportschlager. Dabei steht das Nationalgetränk weiter stolz da: Mit einem Absatz von 95 Millionen Hektolitern ist Deutschland der größte Produzent Europas und der viertgrößte der Welt (nach China, den USA und Brasilien). Das Symbol hat Strahlkraft. Im bayerischen Weihenstephan lehrt eine Uni Brauereitechnologie. Der Bierbrauer als Ingenieur, wo gibt es das sonst? Fragt man Amerikaner, was sie mit Deutschland verbinden, antworten zwei Drittel: Bier. Weit abgeschlagen folgen Weltkrieg und tolle Autos. Sogar die Chinesen schwärmen vom Reinheitsgebot, dem ältesten gültigen Lebensmittelgesetz der Welt.

Doch der Ruhm lässt sich schwer in Exporterfolge ummünzen. Bier ist ein heimatbezogenes Getränk, stiftet lokale Identität und wird durch Transport nicht besser. Dazu kommen Hürden bei der Einfuhr, vor allem in die USA. Purer Protektionismus, schimpft man unter der Hand. Die Folge: Die Exportquote liegt nur bei 16 Prozent. Zuwächse auf dem Gesamtmarkt werden durch verstärkte Einfuhren wettgemacht.

Sicher: Die Deutschen lieben ihr Bier. Doch das Wir-Gefühl, das der Gerstensaft vermittelt, trügt: Sie trinken immer weniger davon. Um den Trend zu stoppen, müsste ständig Fußball-WM sein. Man kennt das Phänomen aus anderen westeuropäischen Biernationen: In Großbritannien, Irland und Belgien geht der Pro-Kopf-Verbrauch noch weit dramatischer zurück. Die Österreicher sind die kleine Ausnahme. Damit haben sie die Deutschen 2011 vom zweiten auf den dritten Platz verdrängt (uneinholbar an der Weltspitze liegt Tschechien, aber auch dort sinkt der Konsum pro Kopf).

Warum der Rückgang? Da ist die Migration von Zuwanderern aus weniger bieraffinen Ländern. Dann das stärkere Gesundheitsbewusstsein: Der Absatz von Erfrischungsgetränken und Mineralwasser klettert in schwindelnde Höhen. Die Bierflasche am Arbeitsplatz, einst unverzichtbares Accessoire für Bauarbeiter und Handwerker, ist im Deutschland von heute ein No-go. Auch aus dem Playmobil-Satz „Baustelle“ wurde die Bierkiste entfernt.

Seit jeher ist Bier das billige Volksgetränk. In der Wirtschaftswunderzeit stieg der Absatz mit dem allgemeinen Konsumniveau, bis durch den Wohlstand die alkoholische Konkurrenz erstarkte. Deutsche lernten den teureren Wein schätzen (er hält, trotz Saft- und Wasserboom, konstant sein Niveau). Immer neue Angebote machen Furore, von Prosecco über Aperolspritz bis Hugo. Als Alleinstellungsmerkmal bleibt: Bier darf nichts kosten. Jedenfalls nicht über elf bis 18 Euro pro Kiste. Bei Diskonteraktionen wird diese Bandbreite noch weit unterschritten.

Gesunder Wettbewerb. Das liegt auch an der Marktstruktur. In den meisten westlichen Ländern blieben wenige Player übrig: Giganten wie AB InBev, SAB Miller und Heineken. In Deutschland ist die Konzentration geringer. Selbst der Marktführer Radeberger, der zum Oetker-Konzern gehört, kommt nur auf zwölf Prozent Anteil. Damit bleibt der Wettbewerb stark – und der Ausweg, sich über höhere Preise und Margen Luft zu verschaffen, verwehrt.

Zumindest, solange sich das Angebot nicht erweitert. Hier liegt für die Berliner Kleinbrauer die Crux von heute und die Lösung von morgen. Es dominiert, klagt Lembke, der „Massengeschmack“. Alle produzieren im Grund das Gleiche: ein helles, leichtes Pils ohne besondere Bitter- oder Aromastoffe, „hochwertig, aber austauschbar“. Am Reinheitsgebot liegt das nicht: Allein bei Hopfen, Malz und Hefe gibt es so viele Arten, dass in Kombination mit Prozesstemperatur und Wasserhärte über eine Million Varianten möglich wären. Stattdessen setzen Braukonzerne auf teures Marketing. Doch Werbung schafft es kaum noch, Differenzen zu betonen, die geschmacklich nicht nachweisbar sind. Das macht es dem Handel leicht, den Preis zu drücken. Im Wettbewerb siegt, wer Gasthäusern mehr Sonnenschirme für den Exklusivvertrag schenkt.

Doch nun rufen handwerkliche Kleinbrauer wie Lembke die Revolution aus. Sie kommt aus den USA und hört auf den Schlachtruf „Craft Beer“. Um sie zu verstehen, hilft ein Blick auf die Geschichte. Einst gab es in Amerika eine große Vielfalt an Bieren. Jede Einwanderergruppe steuerte ihren Geschmack dem Melting Pot bei. Doch dann kam die Prohibition. Nur 40Brauereien überlebten die Zwanzigerjahre (mit Malztrunk).

Auch danach behielt Alkohol das Stigma des Bösen. Dem hatte sich das Bier zu beugen: leicht, dünn, fad, wässrig – so schmeckt das in Mengen produzierte Gesöff bis heute. Das führte, schön dialektisch, in den 1980er-Jahren zur Craft-Bewegung: „Microbreweries“ besinnen sich der Tradition und setzen dem verblüfften Publikum Kreationen vor, die mit dem Standardlagerbier wenig zu tun haben.

Die Kraft von Craft. Nicht immer überzeugt das Ergebnis. Aber die Leidenschaft steckt an: Bürger besuchen Kurse und panschen ihr eigenes Bier mit dem Gaskocher in der Garage. Vom neuen Interesse profitieren alle: „Es geht wieder ums Brauen und nicht um den Preis im Supermarkt“, schwärmt Lembke. Das Segment wächst jedes Jahr um 20 bis 30 Prozent. Sein US-Anteil liegt, je nach Abgrenzung, bei fünf bis zehn Prozent.

Nicht so in Deutschland, wo Craft in der Statistik keine Rolle spielt. Das Potenzial liegt bei unter einem Prozent, schätzt man im Verband. Deutsches Bier wird zum Opfer seines eigenen Ruhms: So lange hat man den Germanen eingehämmert, ihr Einheitspils sei das beste Bier der Welt, dass ihnen nichts anderes mehr schmeckt. Sie trinken nur immer weniger davon.

Dagegen kämpft Lembke an. Zurzeit arbeitet er an der „echten“, längst ausgestorbenen Berliner Weiße. Da waren zwei Hefen drin, mit besonderen Milchsäurebakterien. Aber welche? Mit einem Institut hat Lembke umfangreiche Labortests gestartet. Pensionisten, die in ihrer Jugend das obergärige Schankbier noch getrunken haben, dienen als Versuchspersonen. Endziel ist der „Champagner du Nord“, der erst nach einer Dekade Lagerung zur vollen Reife gelangt. Bis dahin soll die Neugier der Deutschen auf ihr Bier wieder schäumen und zischen. Ein Prosit auf die nächsten zehn Jahre!

In Zahlen

95Millionen Hektoliter Bier
setzten deutsche Brauer 2013 ab. Das macht Platz eins in Europa und Platz vier in der Welt.

106Liter Bier
trinkt der Durchschnittsdeutsche im Jahr. Mitte der Siebzigerjahre waren es noch 45 Liter mehr.

1350Brauereien
gibt es in Deutschland. Ihre Anzahl steigt durch viele kleine Gasthausbrauereien. Die Zahl der größeren Betriebe (ab 5000 hl) ist seit 1994 um 37Prozent gesunken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

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