Die Zeit der großen Ernüchterung

(c) AP (Murad Sezer)
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Angst vor sozialem Abstieg und einer Spaltung der Gesellschaft kennzeichnen das Zukunftsbild der Europäer. Zukunfts-Forscher Ulrich Reinhardt über Europa im Jahr 2030.

WIEN. „Das Schlaraffenland ist abgebrannt“ – so düster sieht das Fazit einer Studie über Europa im Jahr 2030 aus. Angst vor sozialem Abstieg, Unsicherheit und Vertrauensverlust kennzeichnen die Stimmungen und Erwartungen von 11.000 Europäern, die von der „Stiftung für Zukunftsfragen“ in Kooperation mit Europäischen Futuristen erforscht wurden.

Akuter Pessimismus oder kommt es wirklich so schlimm? „Ewig kann es so nicht weitergehen“, meint Ulrich Reinhardt, Geschäftsführer des Instituts für Zukunftsfragen. „Wir werden uns auf einem Niveau einpendeln, auf dem wir sicher sehr sehr gut leben können. Aber das ewige Wachstum und die Befriedigung immer neuer Bedürfnisse, das ist vorbei“, meint der Zukunftsforscher.

Die größte Angst der Europäer sei, dass die soziale Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht. Vor allem der Mittelstand fürchtet einen Abstieg. Zwei Drittel der befragten Österreicher erwarten, dass diese Kluft bis 2030 in Österreich wächst. Mehr als jeder Zweite meint, dass es in 22 Jahren kaum mehr eine Mittelschicht geben werde. „Das ist sicher nicht realistisch, aber die Angst ist da, die Menschen erwarten, sich weniger leisten können“, so Reinhardt.

Auch die Art der Arbeit wird sich bis 2030 verändern. Zunächst werde sich Arbeit weiter von der Produktion zu Dienstleistungen verschieben. Massenarbeitslosigkeit, so der Forscher, müsse man aber nicht fürchten. „Vor allem Jüngere nicht, denn weiter wachsen wird die Gesellschaft nicht.“ Jüngere Menschen sehen die Zukunft ohnehin optimistischer als ältere. „Es gilt: Je älter eine Gesellschaft ist, umso pessimistischer ist sie. Die Angst vor Veränderung spielt da eine große Rolle“, so Reinhardt.

„Europäer arbeiten zu wenig“

In Österreich erwarten 63 Prozent, dass sie im Jahr 2030 einen Zweit- oder Nebenjob brauchen werden, um ihren Status zu halten. „Das betrifft eher Teilzeitarbeiter“, so Reinhardt.

Aber: „Wir arbeiten in Europa zu wenig.“ Nach einer Faustregel arbeite man in Europa 1900 Stunden pro Jahr, in den USA 2100, in Japan 2400 und in Schwellenländern etwa 2600 Stunden. „Andere Industriestaaten sind weit vor uns.“ Auf Dauer sei das nicht haltbar. 2030 werde man mindestens bis 70 arbeiten, vor allem bei anspruchsvolleren Jobs sei mit zusätzlicher Arbeitsbelastung zu rechnen. Trotzdem erwarten die Futuristen einen Wertewandel: weg von der Konzentration auf Karriere, hin zu Familie. Trotz einer Renaissance traditioneller Werte vertritt man vor allem in Österreich die Ansicht, dass die Zukunft den Frauen gehört. Nirgendwo sonst rechnet man so schnell mit einer Angleichung der Geschlechterrollen. „Frauen bekommen auch in Zukunft alles besser hin als Männer. Aber es wird noch 20, 25 Jahre dauern, bis sie in den Führungsetagen ankommen“, so Reinhardt.

Auch bei der Einschätzung der weltweiten Wohlstandsverteilung nimmt Österreich eine Sonderstellung ein. Im Schnitt meint jeder dritte Europäer, dass die Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern bis 2030 schrumpfen wird, in Österreich sehen das nur neun Prozent kommen. Das ist der niedrigste Wert in Europa. „Österreich setzt auf seine Position als Insel, das ist nicht realistisch. Viele Länder werden massiv aufholen. Auch daher kommt die Angst vor Verlust des eigenen Wohlstands“, erklärt Reinhardt.

Paradigmenwechsel seit 9/11

Die Ängste der Befragten seien kein Effekt der Teuerung oder der nahenden Finanzkrise (die Interviews fanden im Mai und Juni 2008 statt). „Diese Tendenz gibt es seit sechs, sieben Jahren“, erklärt Reinhardt. Die Zukunftsforscher suchen nach Zäsuren, nach denen die Stimmung einer Gesellschaft kippt. Für das neue Jahrtausend war das der 11. September 2001. Seither, so Reinhardt, sei das Paradigma von ewigem Wachstum, Aufstieg und Konsum einer Ernüchterung gewichen. Nun würde man nur mehr versuchen, Status und Wohlstand zu halten. „Nach den 1990er-Jahren des Konsums ist die Zeit des Sparens angebrochen.“ Allerdings müsse man immer bedenken, „dass wir auf enorm hohem Niveau jammern“, so Reinhardt. An diesem Niveau werde sich nichts Grundlegendes ändern.

Zäsuren wie Internet, 9/11 oder Finanzkrise können aber auch die Futuristen nicht voraussehen. „Wir sind keine Glaskugelforscher“, so Reinhardt. Das Institut erforscht seit 1979 Zukunftsaussichten und erarbeitet Szenarien. Über Zeitreihen könne man dann gesellschaftliche Entwicklungen prognostizieren. Allerdings: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Auch 2030 werden wir noch in den Supermarkt gehen oder zuhause vor dem Fernseher Bier trinken.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2008)

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