Deirdre McCloskey: »Wir sind keine Schachfiguren«

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Die Ökonomin Deirdre McCloskey wurde als Mann geboren und war früher ein Marxist. Heute ist sie eine Frau, die für mehr Freiheit kämpft.

Sie bezeichnen sich als Ex-Marxistin. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

Deirdre McCloskey: Ich habe meine Meinung oft geändert. Angefangen hab ich als Anarchist – mit 14. Damals habe ich in der Bibliothek Prinz Peter Kropotkin entdeckt, den großen russischen Anarchisten. Dann habe ich mich zum Marxisten entwickelt. Ich kann bis heute alle marxistischen Lieder auswendig – und die Gewerkschaftslieder auch. Später habe ich in Harvard Wirtschaft studiert – und dort wurde Keynes unterrichtet. Also bin ich zum Keynesianer geworden – und zu einem Wirtschaftsingenieur mutiert. Das war damals die Einstellung in Harvard und Yale: „Wir wissen so viel über die Wirtschaft, wir können sie steuern!“ Wie Schachfiguren.

Aber das kann man nicht.

Nein, natürlich nicht. Wir sind keine Schachfiguren – wir sind Menschen. Meinen ersten Job hab ich an der Universität von Chicago bekommen. Da hatte ich mich schon zu einem Wirtschaftshistoriker entwickelt und angefangen, an den Markt zu „glauben“ - wobei dieses „glauben“ natürlich immer eine unzureichende Beschreibung ist. In Chicago bin ich in Richtung der Chicago School tendiert. Ich ändere aber nicht willkürlich meine Meinung. Das war eine intellektuelle Entwicklung. Bis hin zur Austrian School.

Zur „österreichischen Schule“ von Friedrich Hayek und Ludwig Mises?

Ja. Das ist geschehen, als ich einige „Austrians“ kennengelernt habe, die sehr an empirischer Arbeit interessiert waren. Da bin ich ein Stück des Weges mit ihnen gegangen. Das waren die 1990er. In den 1980ern habe ich mich sehr stark mit Rhetorik beschäftigt – weil mich der Kontrast zwischen Harvard und Chicago – und zwischen Marx und der „bürgerlichen“ Ökonomie so fasziniert hat. Ich wollte wissen, wie Menschen sich gegenseitig überzeugen können.

Gibt es so etwas wie eine ökonomische Wahrheit?

Es gibt verschiedene Wahrheiten – nicht die eine, religiöse Wahrheit. Es gibt aber kleine Wahrheiten, wie die Wahrheit, dass der Stephansdom ästhetisch schön anzusehen ist zum Beispiel. Oder die Wahrheit, dass eine Tageszeitung aus Papier besteht. An diese Wahrheiten glaube ich schon.

Aber die Kombination aus vielen Wahrheiten ergibt nicht automatisch eine große Wahrheit?

Ich bin Christin. Eine progressive Anglikanerin. Ich habe nichts gegen Homosexuelle – im Gegenteil. Ich bin eine Christin, aber keine Fundamentalistin. Ich glaube schon, dass es – auch außerhalb der Ökonomie – eine Wahrheit gibt. Aber nicht, dass Menschen überhaupt Zugang dazu haben.

Warum liefern Ökonomen heute immer Lösungen, wenn sie Probleme beschreiben?

Weil sie dafür bezahlt werden, weil sie sich gerne für Philosophen halten.

Aber ist das nicht eine Gefahr? Politiker wissen doch schon, was sie hören wollen, bevor sie sich einen Experten aussuchen.

Das stimmt. Aber die Perspektive ist doch zynisch. Dass alles nur von Lobbys und Interessensgruppen bezahlt und gesteuert wird. Aber langfristig glaube ich nicht, dass das stimmt. Ein Beispiel: Sozialismus und Staatseingriffe wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zum Standard. Seitdem wird sofort nach dem Staat geschrien, wenn einmal etwas schiefgeht. Aber rund um 1900 war das nicht der Standard.

Wird es in 100 Jahren der Standard sein?

Ich hoffe nicht. Weil das nur bedeutet, dass der Staat, also Regierung und Verwaltung, immer größer und größer werden und immer mehr Aspekte deines Lebens bestimmt. Weil wir ständig zu den Politikern jammern gehen: „Hilf mir, ich bin ein Industrieller, ich brauche Schutz. Ich bin arbeitslos, ich brauch einen Job. Erfinde einen Job für mich.“

Aber gleichzeitig sind wirtschaftliche und persönliche Freiheit gewachsen in den letzten Jahrzehnten.

Genau. Das ist es, was ich gemeint habe: Ideen sind wichtig. Die Ideen der großen Austrians Hayek und Mises sowie ihrer Schüler hatten in den 1950er-Jahren keine Chance. Null. Damals hat es so ausgesehen, als hätte ein anderer großer Denker österreichischer Herkunft recht: Schumpeter. Er und viele andere waren damals überzeugt, dass alles auf Sozialismus rausläuft.

Old-School-Sozialismus?

Ja, das, was wir heute eher Kommunismus nennen. Schumpeter dachte, es sei unvermeidbar. Alle dachten das. Aber ein paar Mutige haben gesagt: „Nein, ist es nicht, wir werden dagegen argumentieren.“ Das haben sie gemacht. Und irgendwann haben auch die Politiker zugehört – vor allem, weil die sozialistischen Ideen immer und immer wieder gescheitert sind. Heute kann das jeder sehen, der will. Wir hatten diese Experimente: Ostdeutschland und Westdeutschland, Hongkong und China, Nord- und Südkorea.

Müssen wir uns also zwischen Konkurrenz und Kooperation entscheiden?

Nein, nein. Jeder Ökonom, der auch nur das geringste von der Welt mitbekommt, wird wissen, dass sowohl Konkurrenz als auch Kooperation von unheimlicher Bedeutung sind. Es ist ein Riesenfehler der Linken und der Gegner von freien Märkten zu sagen: „Wir schalten die Konkurrenz in der Wirtschaft aus. Wir halten das für gemein. Wir sind freundlich.“ Schauen Sie, wollen Sie einen Arzt, der keine Konkurrenz zu fürchten hat?

Nein, natürlich nicht.

Genau. Aber einen Arzt, der nicht zu Kooperation fähig ist, wollen Sie auch nicht, oder?

Nein, will ich nicht. Aber ist nicht Konkurrenz ohnehin eine Art von Kooperation?

Ja, ist es. Es ist die Form der Kooperation in der Gesellschaft. In der Familie, konkurriert die Mutter nicht mit den Kindern. Aber in einer großen Stadt kann man sich nicht auf Liebe verlassen.

Also braucht man auf der Makroebene Konkurrenz – und in der Microebene Kooperation?

So ist es gut beschrieben, ja. Kooperation im großen Stil kann manchmal als Monopol oder Verschwörung enden. Die Achsenmächte haben miteinander kooperiert, um die Welt zu unterwerfen. Das ist die eine Form von Kooperation, die ich mir nicht wünschen möchte. Aber die alltägliche Kooperation mit Kollegen im Büro, die ist sehr wichtig.

Ihr großes Argument ist: Es geht uns gut. Warum jammern wir eigentlich so viel?

Es ist eine Frage der Perspektive. Ja, in diesem Moment geht es zum Beispiel den Österreicherinnen und Österreichern besser als je zuvor. Das kann man an den Zahlen sehen. Aber Menschen bedienen sich meist einer sehr kurzfristigen Perspektive. Und das ist Ihre Schuld! Es heißt nicht umsonst Journalismus – alles dreht sich nur um heute, um einen Tag. Vielleicht um gestern und morgen. Aber das wars.

Da haben Sie sicher recht. Aber wenn man die langfristige Perspektive betrachtet, wie sehr hat sich unser Lebensstandard wirklich verbessert?

Enorm. Seit 1800 mindestens um den Faktor 100. Und es ist sehr schwer, die Leute davon zu überzeugen. Sie verklären die Vergangenheit und sehen nicht, wie schrecklich es eigentlich war. Der durchschnittliche Österreicher hat 1800 von drei Dollar pro Tag gelebt. Heute sind es rund 100 Dollar. Und das sind sehr konventionelle Zahlen – ohne die qualitative Verbesserung der Produkte und der Versorgung einzuberechnen. So etwas ist in Zahlen nur sehr schwer auszudrücken. Anästhesie ist ein gutes Beispiel. Mir wurden gerade die Hüftgelenke getauscht. Ich hatte keine Schmerzen. Ich hab geschlafen, während die Ärzte mit Sägen zu Werke gegangen sind. Es gibt also diese gewaltige Verbesserung.

Wenn die Lage so eindeutig ist, warum wird dann heute noch so getan, als wäre eine neue Form von Sozialismus immer noch eine Option?

Die meisten Menschen machen sich darüber ohnehin keine Gedanken. Und das ist okay so. Es sind die Künstler, Wissenschaftler und Journalisten, die entscheidend sind. Es geht darum, wie die Geschichten erzählt werden. Erst kürzlich habe ich einen Bericht in der BBC über das Wachstum in Asien gesehen. Darüber, wie rasch der Aufstieg war. Und am Ende sagt die Reporterin: „Aber nicht alle haben gleich stark vom Aufschwung profitiert.“ Das ist eine dieser linken Standardbemerkungen. Es ist dumm und zeigt null historische Perspektive. Weil natürlich alle profitieren. Den ärmsten Menschen im heutigen Wien geht es gewaltig besser als ihren Vorfahren. Sie sterben nicht an der Pest – um damit zu beginnen. Und das ist eine echte Verbesserung. Die Pest war ziemlich schlimm.

Es gibt zwei Möglichkeiten, an ein ökonomisches Problem heranzugehen: Intervention und Nonintervention. Aber darüber zu schreiben ist schwer. Ich kann Bücher füllen mit exotischen und utopischen Ideen. Aber zu schreiben: „Tut am besten nichts“ – das wird schnell redundant.

Ja, aber es gibt immer eine neue Intervention, eine neue Maßnahme, die man probieren kann. Es ist schwer, die Erfolgsgeschichte des „Laissez-faire“, von wirklich freien Märkten, zu erzählen. Wie Hayek schon festgestellt hat, sind die Geschichten vom ökonomischen Fortschritt alle sehr klein und unscheinbar. Wenn jemand eine neue Art des Kaffeebrühens entwickelt zum Beispiel. Der freie Markt nimmt diese kleinen Ideen und verbreitet sie, damit alle profitieren. Verglichen mit der großen Geschichte von den Heldentaten des Staates sind diese kleinen, wichtigen Geschichten schwer zu vermitteln.

In Österreich sind wir sehr stolz auf unsere Kombination aus Markt und Sozialstaat.

Ja, das ist sehr nett. Ich nenne mich gerne eine mütterliche Liberale. Der väterliche Liberale haut dich raus, wenn du ohne Arbeit zuhause rumhängst. Die mütterliche Liberale sagt: „Ach, er ist ein netter Bursche. Hier, iss eine Suppe.“ Das bin ich eher. Was ich gerne sehen würde, ist ein Grundeinkommen. Kein Mindestlohn, wie sie ihn in Deutschland einführen wollen. Das wird nur mehr Arbeitslosigkeit kreieren – eine schreckliche Idee. Wenn du jung bist oder ein Migrant oder eine Frau wirst du durch Mindestlöhne am Arbeiten gehindert. Aber ein Grundeinkommen für jeden würde mehr Sinn machen. Da können sogar Linke und Rechte sich einigen.

Wie viel soll der Staat den Bügern zahlen?

Eine geringe Summe. Man kann nicht per Gesetz alle reich machen. Das ist der grundlegende Fehler bei Mindestlöhnen und vielen anderen Interventionen. Die Annahme, dass ein paar Gesetze ausreichen, und dann werden alle Leute auf mysteriöse Art und Weise reich. Wenn das stimmen würde, ich würde es unterstützen.

Aber wie heben wir das Lebensniveau für alle wirklich?

Durch Freiheit. Lasst die Leute in Ruhe ihre Arbeit tun, lasst sie handeln und Verträge schließen. Und kommt es zu Gewalt oder Betrug, muss natürlich eingeschritten werden. Wenn ein solches System zugelassen wird, sind die Erfolge atemberaubend. Sehen Sie sich Hongkong an. 1948 waren die Menschen dort genauso arm wie im übrigen China. Hongkong hatte Rikschas, heute gibt es nur noch Taxis. Wir sollten die Qualität einer Gesellschaft danach beurteilen, wie gut es den Ärmsten geht. Piketty ist besessen von den dummen Konsumausgaben der Reichen. Die Reichen kaufen Yachten! Sie kaufen Schmuck! Diese schlechten Menschen! Er impliziert, dass es arme Menschen gibt, weil es andere gibt, die reich sind. Aber das ist einfach nicht wahr. Deswegen wird es auch nichts lösen, wenn wir von den Reichen nehmen und den Armen geben – das geht nur einmal gut. Das ist kein guter Plan.

Was wäre ein guter Plan?

Lasst den Markt arbeiten. Dann kommt es zum „bürgerlichen Deal“. Die Unternehmer sagen: „Lasst mich an Innovationen arbeiten und neue Ideen am Markt austesten und lasst mich dabei in Ruhe – dann mach ich euch alle reich.“ Das ist, was schon in den vergangenen zwei Jahrhunderten passiert ist. Das verbessert das Leben für alle. So bekommt man bessere Straßen, bessere Medizin und bessere Bildung.

Das würde aber heißen, dass wir wieder weniger Regulierung und Steuern brauchen.

Ja. Manche Österreicherinnen und Österreicher werden mir zustimmen, wenn ich sage: Viele Regulierungen, die aus Brüssel kommen, sind verrückt. Aber vielleicht sind dann auch die Regulierungen, die aus Wien kommen, verrückt, dumm oder korrupt.

Fakten

McCloskey gilt als eine der führenden Ökonominnen der USA – sie unterrichtet an der University of Illinois in Chicago und hat mehr als 20 Bücher geschrieben bzw. herausgegeben. Ihre Autobiographie, in der sie auch ihren Weg vom Mann zur Frau beschreibt, heißt „Crossing: A Memoir“.


In Wien wurde McCloskey vergangene Woche vom Austrian Economics Center mit dem diesjährigen Hayek Lifetime Achievement Award geehrt für ihr Lebenswerk geehrt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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