Kapitalismus ade: Mehrheit will neues System

(c) Reuters (Kai Pfaffenbach)
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Weltweite Umfrage: 70 Prozent wollen eine „grundlegende Änderung“ der Wirtschafts-Ordnung. Befragte in Entwicklungs-Ländern spüren die Folgen der Situation am stärksten.

Wien. „Junge, wie viel Glück du hast, zurück in der UdSSR“, sangen die Beatles im Jahre 1968 („Back in the USSR“). Rund zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Sozialismus scheinen wieder Hunderttausende in diesen Chor einzustimmen – wenn auch aus anderen Gründen. Bei den Beatles ging es um Mädchen, heute geht es um den Abschied vom Kapitalismus.

In Zeiten der Wirtschaftskrise erleben Kritiker der Marktwirtschaft regen Zulauf, was am vergangenen Samstag auf Antiglobalisierungsdemonstrationen in Wien und zahlreichen Hauptstädten Europas zu sehen war. Wenige Tage vor dem Gipfel der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in London heizt sich die Stimmung zusätzlich an. Sogar in Österreich: Hierzulande halten nur noch 20 Prozent den Kapitalismus für eine „eher sympathische“ Wirtschaftsform. Dagegen ist er für eine breite Mehrheit von 76 Prozent „eher unsympathisch“, so das Ergebnis einer Umfrage von GfK Austria im Auftrag von ortneronline.at.

62 Prozent spüren Krise

Ungleich umfangreicher ist eine Erhebung der britischen Rundfunkanstalt BBC. In ihrem Auftrag untersuchten Meinungsforscher die Einstellung zum ökonomischen System in 24 Ländern, darunter in 15 Teilnehmerländern des G20-Gipfels in London. Das Gesamtergebnis vorweg: 70 Prozent aller Befragten sind der Meinung, es seien „grundlegende Änderungen“ der Weltwirtschaftsordnung nötig. 68 Prozent sehen diese Notwendigkeit zugleich auch in ihrem eigenen Land. Und 62 Prozent geben an, dass die Wirtschaftskrise sie „spürbar“ bis „schwerwiegend“ getroffen hätte.

Befragte in Entwicklungsländern spüren die Folgen der Situation am stärksten. So geben in Kenia 74 Prozent an, die Krise hätte sie „schwerwiegend getroffen“, in Ägypten sind es 64 und auf den Philippinen 55 Prozent.

Die größte Bereitschaft zu fundamentalen Reformen des Wirtschaftssystems findet sich in einem EU-Land: 92Prozent der Portugiesen stimmten für „grundlegende Änderungen“, gefolgt von den Philippinen (88) und Spanien (84%). In Japan und Indien ist der Ruf nach Veränderung mit 39 Prozent am leisesten. Auch Frankreich ist mit seiner Reformbereitschaft von 83 Prozent unter den Ersten. Trotzdem gibt eine Mehrheit von 54 Prozent an, von der Krise kaum betroffen zu sein. In Deutschland verstärkt sich das Bild: 66 Prozent fühlen keine Auswirkungen, trotzdem sind rund 70 Prozent für Reformen.

Ganz anders die Situation in den USA: Hier zeigen sich 58 Prozent von der Krise persönlich betroffen. 67 Prozent wollen weltweite wirtschaftliche Veränderungen, und 75 Prozent wünschen Reformen im eigenen Land.

Als Gegengewicht lohnt sich allerdings auch ein Blick auf die langfristige Entwicklung des Lebensstandards. So stieg der Weltbank zufolge das Jahreseinkommen pro Kopf von 5400 Dollar im Jahre 1980 auf 8500 Dollar im Jahr 2005 – ein unbestrittener Erfolg des kapitalistischen Systems.

„Apokalypse vom Feinsten“

Dennoch bezeichnete Michail Gorbatschow, letzter Staatschef der UdSSR, dieses Modell jüngst als „ziemlich primitiv“. Der russische Publizist Viktor Jerofejew kommentierte wiederum den russischen Weg so: „Kommunismus habt ihr nicht hingekriegt, Kapitalismus auch nicht, dafür Apokalypse vom Feinsten.“

Seine Landsleute sehen das nicht so: Ungeachtet einer aufkommenden Massenarbeitslosigkeit steht Russland bei der Bereitschaft zu wirtschaftlichen Veränderungen an viertletzter Stelle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2009)

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