Japans Kampf um die Energie-Zukunft

JAPAN NUCLEAR TSUNAMI FUKUHSIMA
JAPAN NUCLEAR TSUNAMI FUKUHSIMAAPA/EPA/KIMIMASA MAYAMA
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Vier Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima werden die ersten Kernkraftwerke wieder hochgefahren. Zum Missfallen vieler Japaner.

Leise ruhen die gigantischen weißen Türme von Sendai, so friedlich, dass man kaum etwas Böses ahnen würde. Aber Ryoma Miura sieht in ihnen den Kern nationaler Gefahr. „Ich war schon in Tokio, um zu demonstrieren, und hier in der Region immer wieder“, sagt der junge Aktivist. „Wir wollen diese Risken nicht.“ Was, wenn ein zweites Fukushima passierte? Heute ist er nur mit einer Handvoll Kameraden gekommen, um ein Zeichen zu setzen. „Atom, nein danke“, rufen sie, strecken Banner in die Luft. Aber die zwei Atomreaktoren in Sendai werden bald wieder brummen.

Auch wenn die Sache beschlossen ist: Ryoma Miura und seine Kollegen wollen sich nicht unterkriegen lassen. Vier Jahre ist es her, dass am 11. März 2011 eine Kombination aus Erdbeben, Tsunami und Reaktorkatastrophe von Fukushima ganz Japan erschütterte. Gut 300.000 Menschen verloren damals ihr Zuhause, knapp 20.000 starben. Von einer vollkommenen Erholung ist der Nordosten des Landes noch immer weit entfernt. Als Vorsichtsmaßnahme nahm die Regierung alle 48 Atomreaktoren vom Netz. Mit strengeren Sicherheitsstandards sollen sie jetzt wieder hochfahren.

Nur warum eigentlich? Die Mehrheit der Japaner lehnt die Atomkraft ab. Außerdem wären Alternativen vorhanden: Japan ist umzingelt von Wasser, überweht von starken Winden und hat reichlich Vulkane, die Erdwärme bieten. Ist die Atomkraft wirklich nötig?

1.000 Kilometer östlich von Kagoshima erklärt ein älterer Herr die Notwendigkeiten. „Keine Energiequelle ist so effektiv und stößt gleichzeitig so gut wie keine Schadstoffe aus“, sagt Nobuo Tanaka. Tanaka klingt überzeugt, aber auch so, als hätte er diesen Satz schon oft gesagt. Bis 2011 leitete er die Internationale Energieagentur in Paris, heute ist er Professor für Energiepolitik an der Universität Tokio und führt einen Thinktank. Sein Argument: Seit alle Reaktoren ruhen, die einst 30 Prozent des Verbrauchs lieferten, werden 90 Prozent der Energie importiert, vor allem Öl und Gas. Die Strompreise in Japan sind um ein Drittel gestiegen. Wenn die Volkswirtschaft wachsen solle, führe kein Weg an der Kernenergie vorbei.


Grüne Energie. Tanaka ist einer der bekanntesten Kernkraftbefürworter Japans. In den 1970er-Jahren, als die Ölkrise ausbrach, begann er als junger Mann eine Bürokratenkarriere im Wirtschaftsministerium, Atomkraft schien damals als Lösung aller Versorgungsprobleme: vermeintlich billig, vermeintlich sicher. Tokios Regierung veranlasste einen Reaktorbau nach dem anderen, in Japans Boomjahrzehnten bis 1990 wurden Unternehmen wie Toshiba, Hitachi, Japan Steel Works oder Mitsubishi Heavy Industries zu globalen Anführern. Nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 wuchs zwar auch hier die Zahl der Zweifler. Aber Entscheider, zu denen auch Tanaka gehörte, blieben unbeirrt. Bis heute. „Ich bin heilfroh, dass wenigstens einige Reaktoren wieder hochfahren dürfen. Der Unfall von Fukushima war einer von Menschenhand“, sagt Tanaka. „Viele der Reaktoren waren alt, die Sicherheitsstandards wurden nicht eingehalten. Deshalb grundsätzlich gegen Atomkraft zu sein, ist die falsche Schlussfolgerung.“ Zudem sei die „vierte Generation“ der Reaktoren praktisch unfallsicher, hochautomatisiert, effizienter im Umgang mit Atommüll.

Nur will diese neuen Reaktorkonzepte zumindest offiziell kaum mehr jemand gut finden. „Ich glaube nicht, dass in diesem Land noch ganz neue Reaktoren gebaut werden“, sagt Tanaka. „Die Regierung hält zwar an der Atomenergie fest, aber das Thema ist zu kontrovers, um es an die große Glocke zu hängen.“

Nicht jeder teilt Nobuo Tanakas Meinung, und das nicht bloß aus Überlegungen der Unfallsicherheit, wegen der Tausende wie Ryoma Miura demonstrieren. Hironao Matsubara hält auch vom ständigen Argument der Versorgungssicherheit nichts. Der Ingenieur sagt das Gegenteil von Tanaka: „Atomkraft ist nicht sicher und nicht grün.“ Und auch volkswirtschaftlich nicht nötig.

Matsubara arbeitet für das unabhängige Institut für Nachhaltige Energiepolitik (ISEP), das errechnet hat: wenn Japan heute die Weichen richtig stelle, könnte es künftig von Energieimporten unabhängig sein. Bis 2050 wäre sogar ein ausschließlich grüner Energiemix möglich. Mit solchen Ergebnissen ist das ISEP nicht allein: WWF Japan, Greenpeace Japan, der Klimaschutzverein Kiko Network und die US-amerikanische Stanford University haben Ähnliches errechnet.

Doch als die Erneuerbaren anderswo auf der Welt spätestens ab den 1990er-Jahren modern wurden, verschliefen Tokios Politiker den Trend. Japans regenerativer Anteil im Energiemix liegt bei zehn Prozent, nur einen Tick höher als 1990 und deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt. Matsubara erwartet, dass für einen grünen Energiemix bis 2050 zehn Billionen Yen (rund 74 Milliarden Euro) nötig wären – das sind 1,6 Prozent der japanischen Wirtschaftsleistung.

„Aber Förderungen bekam die Atombranche auch über Jahrzehnte“, erwidert Matsubara. Und es könnten neue Wachstumsbranchen blühen. Offshorewindanlagen könnten fünfmal mehr generieren als alle japanischen Atomreaktoren. Für Solar- und Wasserkraft sieht Matsubara im Energiemix dabei eine noch wichtigere Rolle. Hinzu kommt die Erdwärme, durch die um die 20 Gigawatt generiert werden könnten, etwa so viel wie 20 Atomreaktoren.

Nur müssten die Japaner für eine ausschließlich grüne Energiegewinnung auf knapp die Hälfte ihres Verbrauchs verzichten. Ein Ausmaß, das sich kaum mit der Vorstellung einer Volkswirtschaft vertragen würde, wie sie Japans Premier Shinzo Abe vorschwebt: Wer immer mehr Wachstum will, benötigt in der Regel mehr Energie. Aber: Fünf Prozent weniger Energie als vor 2011 konsumieren die Japaner auch jetzt. Und in den Tagen nach dem GAU von Fukushima merkte das Land: Es geht auch ohne das Licht an den unzähligen Getränkeautomaten, die Leuchtreklamen an Bahnhöfen und Kreuzungen. Ryoma Miura glaubt: „Einsparungen waren damals möglich, und das ginge heute auch.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2015)

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