Die Dichtmacher: Ein Porträt professioneller Räumungsverkäufer

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Seit mehr als 15 Jahren organisieren Vater und Sohn Sigg das Schließen von Einzelhandelsgeschäften. Ursache sei häufig der "Klaus-Faktor".

Sie kennen den Klaus-Faktor nicht? Es ist die Umschreibung für ein Bequemlichkeitsphänomen, erklären die Erfinder dieser Bezeichnung, Vater und Sohn Sigg. Die beiden Männer arbeiten in einer Branche, von der nicht viele wissen, dass es sie gibt und die dennoch für die meisten Menschen deutlich sichtbar ist. Wolfgang (der Vater) und Steffen (der Sohn) machen Läden dicht und erzählen im deutschen Wochenmagazin „Die Zeit“ über ihre Erfahrungen.

Recht häufig handelt es sich bei ihren Kunden um angesehene, ehemals gut florierende Fachhandelsgeschäfte, die in den letzten Zügen liegen, so das Duo. Vater und Sohn Sigg organisieren den großen Abgesang. So wie eben gerade in Stuttgart, wo sie am Markt das größte Schreibwarengeschäft des ganzen Bundeslandes Baden-Württemberg schließen. Die Schwäche der schwächelnden Fachhändler habe erst in zweiter Linie mit der gegenwärtig einfachsten Begründung, dem Online-Handel, zu tun. Diese Sorte von Händler verlasse sich zulange auf ihre Fachhandelskompetenz, erzählt Steffen Sigg. Sie glauben, die Tradition sei nicht umzubringen.

Reflexartiges Verhalten

Aber gerade hier liegt der Hund begraben. Da fehlt vielen Inhabern einfach die Kreativität, Neues zu machen. Oder sich gegen die Angestellten durchzusetzen. Wenn die beiden Siggs in ein Geschäft kommen und ihr Programm vorstellen, und dazu gehören ein Abverkauf und innovative Rabattaktionen, bekommen sie reflexartig von acht von zehn Händler zu hören: „Das geht bei uns nicht, das haben wir noch nie gemacht oder das will der Kunde nicht“. Meist unterliegt der Händler dem Druck seiner Angestellten, weiß Sohn Sigg von einem konkreten Fall.

Ein Händler wollte an Markttagen einen Schreibwarenstand vor seinem Geschäft aufzubauen, weil die Frequenz an diesen Tag auf der Straße sehr hoch ist. Aber die Mitarbeiter glaubten es besser zu wissen: Draußen bei 32 Grad bringe das doch nichts, es sei viel zu heiß, sich nach draußen zu begeben. Das kostete dem Fachhändler nicht weniger als 4000 Euro Umsatz. Alles nur aus Bequemlichkeit. Also der typische Klaus-Faktor.

Händler sind nicht mitgewachsen

Denn Klaus, der Allerweltstyp, mag nichts Neues, Veränderungen sind ihm nicht geheuer. Und im Handel gebe es einfach zu viele Kläuse, findet Wolfgang Sigg - unter den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern. Die beiden Schließungsexperten orten auch einen Mangel an Generalisten unter den Geschäftsbesitzern. Viele verweisen bei der Frage nach dem Jahresumsatz auf ihren Steuerberater. Sie sind zu wenig Einkäufer, Merchandiser, Betriebswirt und Personalmanager zugleich.

Die beiden Siggs leben mit ihrem Business mittlerweile von der Mundpropaganda. Ideal ist für sie ein halbes Jahr Vorlaufzeit vor einer Geschäftsschließung. Aber nicht um im Stillen weiter zu werken, denn sie starten zumeist gleich mit einer Pressemeldung an die lokalen Medien: „Firma XY macht dicht“ um die Kundschaft aufzuwecken. Kurzfristig und erfahrungsgemäß für sechs Wochen gehe dann der Umsatz bis um ein Drittel nach oben. Und das ohne ein einziges Prozent Rabatt gegeben zu haben. Während dieser Zeit erstellen die Siggs mit dem Geschäftsinhaber die Detailplanung für die große Sause. Wie werden die Fluchtwege im Ausverkaufsgetümmel freigehalten? Brauchen wir andere Öffnungszeiten? Reichen die Reserven an Kassenrollen? Wie machen wir es mit der Werbung?

Kunden erwarten Rabattdramaturgie

Für den Räumungsverkauf selbst hat Wolfgang Sigg dann eine klare Vorstellung. Nicht länger als 36 Tage dürfe dieser dauern, ansonsten laufe sich die Sache tot. Wichtig sei auch die Rabatt-Dramaturgie. Nach 20 Prozent für alles und 30 bis 50 Prozent auf Lagervorräte folgen 50 Prozent auf alles, bevor die letzten zwei, drei Tage mit 70 Prozent eingeläutet werden, erklären die beiden Räumungsprofis. Und sie kaufen oftmals noch Ware zu, manchmal bis zu 60 Prozent der verkauften Stückzahlen.

Und zwar Produkte, die mit dem eigentlichen Geschäft gar nichts zu tun haben. Es gebe einen latenten Bedarf beim Kunden, Dinge zu erwerben, die man schon ewig kaufen wollte, aber man immer hinausschiebt. Textilien gehören nicht dazu, aber Matratzen oder Haushaltswaren sind sehr begehrt. 70 Prozent der Kaufentscheidungen werden intuitiv am Point of Sale getroffen. Und es funktioniert immer wieder. Selbst beim altehrwürdigen Haufler am Stuttgarter Markt. Auch wenn die vielen Kläuse dort vorher gesagt hatten, das sei nicht unser Stil, das verkaufen wir nie, so haben wir beim Schreibwarenfachhändler dann doch Koffer, Handtaschen und Geldbörsen verkauft, so Sigg senior: Denn diese Produkte seien prädestiniert für einen latenten Bedarf. Und mit Rabatt gehe fast alles. Das wisse man aus dem Neuromarketing, denn Rabatte wirken auf Menschen ähnlich wie Kokain.

Zu den Branchen, in denen derzeit die meisten Geschäfte dicht gemacht werden, gehört die Herrenmode. Das Geschäft breche dort völlig weg. Wer trage heute noch einen Anzug? Eher ein Sakko zur Jeans - und das Krawattenbinden haben viele ganz verlernt. Bleiben nur mehr Bankmitarbeiter und Versicherungskaufleute. Auch Glas und Porzellan gehören zu den aussterbenden Branchen. Wer wünscht sich denn heute zur Hochzeit noch Sonntagsgeschirr, fragt Sigg senior, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Hier gibt auch der Klaus-Faktor keine Begründung. Online ist auch nicht immer Schuld, aber es gebe auch Pech: Wenn am anderen Ende der Fußgängerzone ein neues Einkaufsparadies öffnet und die Frequenz absaugt.

Das weiß Steffen Sigg aus eigener Erfahrung. Denn den ersten Laden, den er dicht gemacht hat, war sein eigner. Er besaß ein klassisches Glas-Porzellan-Geschaft. Und dann kam Ikea. Alle liefen dort hin.

(red./herbas)

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