Das Leid in vollen Zügen

BRITAIN EURO STAR RAIL LINE
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70 Prozent der Briten wünschen sich eine staatliche Bahn. Die Privatisierung der British Rail gilt längst als abschreckendes Beispiel. Doch niemand wagt es, den Fehler rückgängig zu machen.

Der 15. September 1830 hätte ein Jubeltag für den Abgeordneten William Huskisson werden sollen. Nicht zuletzt seinem unermüdlichen Bemühen war es zu verdanken, dass an diesem Tag zwischen Liverpool und Manchester die erste Zugsverbindung der Welt mit Dampfloks eröffnet werden konnte. Auf einem Zwischenstopp verließ Huskisson sein Abteil und wurde von einer entgegenkommenden Lok erfasst. Es war ausgerechnet die Rocket von Robert Stephenson, die wohl berühmteste Lokomotive. Auch Huskisson ging in die Geschichte ein – als der erste Tote des Eisenbahnverkehrs.

Von Anfang an lagen Triumph und Tragödie im Verhältnis der Briten zu ihrer Bahn dicht beisammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1948 mit der Verstaatlichung erstmals eine einheitliche British Rail geschaffen. In den 1980er-Jahren unter Premierministerin Margaret Thatcher tauchte die Idee auf, die Bahn aus der Hand des Staates zu geben. „Doch selbst Thatcher wagte sich nicht so weit vor“, schreibt der Journalist James Meek in seinem Buch „Private Island: Why Britain Now Belongs to Someone Else“.

Erst unter Thatchers Nachfolger John Major begann 1993 die Privatisierung der Bahn. Diese wurde in drei große Bereiche zerschlagen: Die Infrastruktur wurde Railtrack übertragen, Lokomotiven und Waggons gingen an drei Leasingunternehmen, und der Zugsbetrieb wurde auf 25 Betreibergesellschaften aufgeteilt.

Railtrack wurde an die Börse gebracht, die Leasingunternehmen wurden verkauft und die Bahnlinien über Franchise-Verträge privatisiert. Das Gesetz versprach den Bürgern, dass Wettbewerb zu einem besseren Service bei günstigeren Preisen führen werde. Railtrack brach 2001 unter seiner Schuldenlast zusammen, und der Staat musste einspringen. Der Nachfolgegesellschaft Network Rail gehören heute 32.000 Kilometer Schienen, alle Signalanlagen und 2500 Bahnhöfe.

Nachdem die Vernachlässigung der Investitionen zu zwei Unglücken mit 38 Toten geführt hatte, wurde massiv in die Sicherheit investiert. Heute hat die britische Bahn die beste Sicherheitsbilanz Europas. Doch die Investitionen kosten Geld, und nur ein Drittel der jährlichen Einnahmen von sechs Milliarden Pfund stammt aus Gebühren für die Schienenbenützung und Einnahmen aus den Bahnhöfen. Für den Rest kommt der Steuerzahler auf. Die Privatisierung entpuppt sich als Schimäre.

Auch das aktuelle Investitionsprogramm von 38 Milliarden Pfund bis 2019 wird staatlich finanziert. Die Maßnahmen sind dringend notwendig, denn mit 1,6 Milliarden Fahrgästen im Jahr haben die britischen Eisenbahnen noch nie so viele Menschen befördert wie heute. In Ballungszentren wie London ist die Bahn hoffnungslos überlastet. Jedes Jahr fällt die Zufriedenheit der Kunden, während die Briten zugleich die höchsten Tarife in Europa zahlen.

Das kommt den Betreibergesellschaften zugute, die Jahr für Jahr satte Gewinne machen. Ironischerweise gehören die wichtigsten Franchisenehmer den staatlich kontrollierten Bahngesellschaften aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden.

Während die Preise steigen, werden die Leistungen schlechter: Überfüllte, verdreckte, veraltete und verspätete Züge sind der Normalfall. Ein Drittel aller Züge war im Vorjahr verspätet, der 7.29-Uhr-Zug von Brighton nach London kam im gesamten Jahr nicht ein einziges Mal pünktlich an.

Kein Wunder, dass sich 70 Prozent der Briten eine Rückkehr der Bahn in staatliche Hand wünschen. Von den Betreibergesellschaften fühlen sich die Passagiere ausgenommen. Um den Preis eines Einzeltickets London–Manchester kann eine vierköpfige Familie nach Spanien fliegen. Der Wagenpark ist heute älter als zur Zeit der staatlichen British Rail. Der Journalist Matthew Engel hat sich in dem Buch „Eleven Minutes Late“ in 77 Zugsreisen der Frage genährt, was aus der britischen Eisenbahn geworden ist. Sein Resümee führt direkt zu dem unglücklichen William Huskisson zurück: „Wie kommt es, dass die Briten, die einst die Eisenbahn erfunden haben und weiter seltsam besessen von ihr sind, so unfähig sind, sie zu betreiben?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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