Deutscher Mindestlohn: Ausnahmen gefordert

Berlin Bundeskanzleramt �bergabe des Jahresgutachtens 2015 2016 zur Begutachtung der gesamt�wirtsc
Berlin Bundeskanzleramt �bergabe des Jahresgutachtens 2015 2016 zur Begutachtung der gesamt�wirtsc(c) imago/Metodi Popow (imago stock&people)
  • Drucken

Flüchtlinge und Langzeitarbeitslose sollen nicht unter den Mindestlohn fallen, finden die deutschen Wirtschaftsweisen. Mit der Forderung sind sie nicht allein.

Berlin. Zwei Ereignisse haben die Deutschen in diesem Jahr maßgeblich bewegt. Das eine, die Rettung Griechenlands, ist längst in Vergessenheit geraten. Das andere, die Flüchtlingskrise, dafür umso präsenter. Auch an den Wirtschaftsweisen ging das viel diskutierte Thema nicht spurlos vorbei. Um nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit der bundesweiten Volkswirtschaft zeigen sich die Herren – und eine Dame – in ihrem 52. Jahresgutachten daher besorgt. „Die langfristigen Herausforderungen für Deutschland haben sich verschärft“, sagt der Sachverständige Christoph M. Schmidt.

Schätzungen zufolge sollen allein in diesem Jahr eine Million Flüchtlinge deutschen Boden betreten. Die Kosten, die dem Staat dadurch entstehen, halten die Wirtschaftsweisen aber für verkraftbar. Die direkten Ausgaben der öffentlichen Hand beziffern sie für 2015 auf 5,9 bis 8,3 Mrd. Euro. Im kommenden Jahr wird der Wert mit neun bis 14,3 Mrd. Euro merklich höher angesetzt. Das entspricht 0,2 (2015) bis 0,5 (2016) Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Je länger die Asylverfahren allerdings dauern und je schlechter die Arbeitsmarktintegration ist, desto teurer wird es. Es gebe zwar enormes Bildungs- und Qualifikationspotenzial bei Flüchtlingen, doch ihr Produktivitätspotenzial wird mittelfristig wohl eher moderat ausfallen, glauben die Wirtschaftsweisen.

Dennoch müsse man Flüchtlingen einen schnellen Eintritt in den Arbeitsmarkt ermöglichen, sagt Schmidt. Als Möglichkeit dafür sieht er, Ausnahmen beim Mindestlohn zu machen. Flüchtlinge sollten von Beginn an als Langzeitarbeitslose betrachtet werden. Für Letztere gibt es bereits eine Ausnahmeregelung. Der Mindestlohn muss ihnen derzeit erst sechs Monate nach dem Eintritt in eine neue Beschäftigung bezahlt werden. Diese Phase sollte man auf zwölf Monate verlängern, fordern die Sachverständigen. „Den Migranten sollten keine Privilegien gegenüber anderen Beschäftigten eingeräumt werden, sie sollten aber auch nicht schlechtergestellt werden.“

Vorerst keine Änderung

Ein Vorschlag der Weisen ist, Praktika für die Dauer von bis zu zwölf Monaten vom Mindestlohn auszunehmen. Sinnvoll erscheint ihnen auch eine nach Alter gestaffelte Lohnuntergrenze, da dies die Eintrittsbarriere für junge Erwachsene senken könne.

Eine Erhöhung des Mindestlohns halten die Ökonomen vor dem Hintergrund eines steigenden Arbeitsangebots im Niedriglohnsektor keinesfalls für richtig. Schmidts Befürchtung ist, dass die negativen Auswirkungen erst in wirtschaftlich schlechteren Zeiten zutage treten werden. Bisher habe man den Mindestlohn ja nur in einer guten konjunkturellen Phase erlebt. Peter Bofinger, der auch Mitglied des Sachverständigenrates ist, vertritt in dieser Sache eine andere Meinung. Man könne den Mindestlohn dort lassen, wo er ist. Auch sei kein negativer Effekt auf dem Arbeitsmarkt durch die Einführung des Mindestlohns zu sehen. Besonders in den betroffenen Branchen sei es zu einem vergleichsweise stärkeren Anstieg der Beschäftigung gekommen.

Offiziell wird sich die Mindestlohnkommission erst nächstes Jahr mit dem Thema befassen. Eine mögliche Tariferhöhung stünde dann 2017 an. Derzeit liegt die bundesweite Lohnuntergrenze bei 8,50 Euro brutto pro Stunde.

Die Wirtschaftsweisen sind mit ihrer Forderung freilich nicht allein. Auch das Münchner Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo hat sich bereits für eine Abschaffung des Mindestlohns ausgesprochen. Dies soll nicht nur für junge Arbeitnehmer ohne Qualifikation, sondern auch für Flüchtlinge gelten. Die Begründung liefern die Experten gleich mit. Eine Umfrage unter Betrieben des verarbeitenden Gewerbes habe gezeigt, dass der Mindestlohn ein Einstellungshindernis für immerhin 29 Prozent darstellt. Im Handel und am Bau sind es rund 60 Prozent.

Arbeitsministerin Andrea Nahles schloss erst jüngst eine Lockerung des Mindestlohns aus. (nst)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.