"EU und Russland schwächen sich gegenseitig"

Woman passes by an office of mobile phone operator MTS, in which Sistema has an effective ownership stake, in St. Petersburg
Woman passes by an office of mobile phone operator MTS, in which Sistema has an effective ownership stake, in St. PetersburgREUTERS/Alexander Demianchuk
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Kein russischer Milliardär ist in so vielen Sektoren tätig wie Wladimir Jewtuschenkow. Der größte Mobilfunkanbieter MTS gehört zu seinem Imperium, dazu 5,5 Millionen Hektar Wald.

Beginnen wir bei der Makroökonomie. Wie sieht einer der größten Unternehmer Russlands dessen gegenwärtigen Zustand?

Wladimir Jewtuschenkow: Wie eine Wirtschaft der Übergangsperiode.

Das hatten wir schon in den 1990er-Jahren.

Wissen Sie, die Geschichte wiederholt sich immer wieder.

Hoffentlich nicht!

Leider liegt es nicht in unserer Macht, den Lauf der Geschichte zu ändern, obwohl es die Leute ständig versuchen. Natürlich hat der spürbare Schlag der Sanktionen eine deutliche Spur hinterlassen, und es wäre dumm zu glauben, dass nichts passiert ist. Wir in Russland haben uns wieder daran gewöhnt, auf unsere eigenen Kräfte zu setzen, da wir keine strukturierten Kredite im Westen bekommen und manch westliche Firma mit ihrer Technologie und ihrem Humankapital das Land verlässt. Aber so schlimm, wie es aussieht, ist es auch wieder nicht: Ein Zusammenbruch hat nicht stattgefunden. Wir versuchen, uns einfach im neuen Paradigma zurechtzufinden.

Das wie aussieht?

Mit den eigenen Mitteln leben, Ausgaben optimieren, in neue Sektoren investieren und verstehen, dass die Kaufkraft bedeutend gesunken ist. In der vorherigen Periode haben wir uns sehr stark in die westliche Ökonomie integriert, haben Allianzen gebildet und gegenseitig Anteile gekauft. Jetzt werden wir darin eben beschränkt. Es ist eine schwierige Phase, aber der erste Schock ist vorbei, und wir verstehen genau, was zu tun ist.

Sie sind einer der wenigen, der den negativen Einfluss der Sanktionen hervorstreicht. Die meisten in Russland spielen dieses Moment im Vergleich zum Ölpreisverfall und der Strukturkrise herunter.

Natürlich ist alles ein ganzer Klumpen.Aber ohne Sanktionen könnte auch bei einem niedrigen Ölpreis die Integration fortgesetzt, Geld im Ausland geborgt und Auslandsinvestitionen in Russland getätigt werden, was die Wirtschaft angekurbelt hätte. Und wie Sie wissen, haben wir ja schon Jahre davor die Mantras wiederholt, dass wir uns von der Ölabhängigkeit befreien, die Wirtschaft diversifizieren müssen usw.

So wie Sie das aufzählen, klingt es, als ob Sie es schon leid sind.

Ja, da haben Sie völlig recht. Deshalb sage ich Ihnen: Wir haben alle verstanden, dass so etwas früher oder später mit der Wirtschaft passieren wird. Aber aufgrund unserer typisch russischen Sorglosigkeit haben wir uns eben nicht rechtzeitig darauf vorbereitet.

Die Vizechefin der Zentralbank, Xenia Judajewa, sagte kürzlich, Russland stehe eine ewige Stagnation bevor, wenn Reformen ausbleiben. Premier Dmitrij Medwedjew sagte gleich darauf, es werde keine forcierten Reformen geben...

Wissen Sie: Ich bin etwas zu alt, um mir anzuhören, was jemand sagt. Ich habe zu allem meine eigene Meinung. Eine ewige Stagnation kann es nicht geben. Unser Land hat man schon oft begraben, und immer wieder ist es aus diversen Gründen wiederauferstanden. Es wird einen Wirtschaftsaufschwung geben. Nehmen Sie den Agrarsektor: Der Import wurde jäh gestoppt, stattdessen wächst der Sektor im Inland.

Denken Sie auch, dass aus dem bisherigen, ölgetriebenen Wirtschaftsmodell ein investitionsgetriebenes werden muss?

Natürlich.

Dann sind die Vorzeichen – das Investitionsklima – nicht gut, bedenkt man, dass Sie vor eineinhalb Jahren im dreimonatigen Hausarrest gelandet sind und Ihnen Ihr Ölkonzern Baschneft weggenommen worden ist.

Sehen Sie, ich idealisiere unsere Gesellschaft nicht! Auch nicht unsere staatliche Maschinerie. Ich weiß nur zu gut, wie sie funktioniert. Aber ich arbeite in 35 Ländern der Welt, und überall gibt es die jeweiligen Probleme. Ungeachtet solcher Vorfälle wie Baschneft ist das Investitionsklima bei uns nicht schlechter als in vielen anderen Ländern.

Nun, die Aktien Ihres Mischkonzerns Sistema, zu dem auch Baschneft gehört hat, sind nach dem Ereignis ins Bodenlose gefallen und haben sich nie mehr so richtig erholt.

Nur wenige Unternehmen würden mit so einer Situation zurechtkommen. Wir aber expandieren sogar, gingen in drei gänzlich neue Sektoren. Ja, wäre schön, würden die Aktien anziehen. Dass sie es nicht tun, liegt an der allgemeinpolitischen und der wirtschaftlichen Situation und daran, dass unsere neuen Sektoren von den Investoren noch nicht wahrgenommen worden sind.

MTS, Russlands größter Mobilfunkkonzern mit 108 Millionen Nutzern, ist Ihr wichtigstes Aktiv. Aber der Gipfel im Telekommunikationsgeschäft scheint überschritten. Wie stellt man sich den Herausforderungen?

Ja, der Gipfel wurde weltweit überschritten. Nicht zufällig tauchten inzwischen Giganten wie Facebook auf. Daher müssen wir neue Richtungen, neue Geschäftsarten und Produkte suchen, zumal die Infrastruktur ja vorhanden ist. Weltweit wird danach gesucht. Ob erfolgreich oder nicht, ist noch offen.

Eine persönliche Frage: Haben sich nach den Ereignissen um Baschneft Ihr Denken und Ihre Sicht auf die Situation geändert?

Nichts hat sich geändert. Ich kenne mein Land sehr gut.

Soll heißen?

In unserer Geschichte gab es oft ambivalente Situationen, Beleidigungen usw. Aber das hat die Leute, die Patrioten waren, nicht gehindert, so weiterzuarbeiten, weil sie nicht anders leben können. Auch ich. Wie früher arbeite ich aggressiv, kaufe, schaffe Neues.

Der Multimilliardär und Strabag-Aktionär, Oleg Deripaska, hat vor einigen Jahren in unserem Gespräch über die spektakuläre Renationalisierung des Ölkonzerns Yukos und die Folgen gesagt, man müsse einfach wissen, in welchem Land man lebt.

Ja, genau. Man muss einfach wissen, in welchem Land man lebt, dann wird es leichter. Im Geschäftsleben muss man immer mit allen Eventualitäten rechnen – auch mit atypischen. Ich bin dem Schicksal für mein interessantes Leben dankbar. Und ich möchte betonen, dass wir von denjenigen, die etwas riskiert haben, ja immer nur jene sehen, die es geschafft haben. Wir kennen zwei Dutzend Hollywoodstars, aber nicht die Zehntausenden, die auch ihr Leben eingesetzt haben, aber vergessen sind.

Sie haben in den vergangenen Jahren stark in den Agrar-, Wald- und Hochtechnologiesektor investiert. Das russische Importembargo auf Agrarprodukte kommt daher auch Ihnen zugute. Soll es verlängert werden?

Nein, natürlich nicht! Alle Embargos und Sanktionen sind Rechts- und Freiheitsbeschränkungen. Ich bin kategorisch dagegen.

Aber die Mehrheit im Land sagt, man komme ohne den Westen aus, stelle alles selbst her. Überschätzt sich Russland da nicht?

Die europäischen Vertreter sagen, Russland würde täglich die EU schwächen. Unsere Vertreter sagen umgekehrt, die EU würde Russland schwächen. Jeder hört nur sich selbst. Eigentlich haben beide recht: Die EU und Russland schwächen sich gegenseitig.

Wie also aus der Sackgasse herauskommen?

So wie wir hineingegangen sind. Einfach retour! Und alles aufheben.

Denken Sie, dass die westlichen Sanktionen dieses Jahr aufgehoben werden?

Ich denke, dass sie gelockert werden. Es ist wie in einer Familie, wo beide Seiten fünf Minuten nach dem Streit begreifen, dass sie im Unrecht sind.

Und dann werden die Beziehungen so gut wie früher sein?

Davon bin ich vollauf überzeugt.

Weil man in Russland von China enttäuscht ist, zu dem man sich hinwenden wollte?

Erstens ist niemand von China enttäuscht, da wir uns vorher auch nicht täuschen ließen. Alle seriösen Leute wussten um die Schwierigkeiten, Mentalitätsunterschiede bei der Arbeit mit China. Es war und ist einfach nötig, die Arbeit mit China zu intensivieren. Verblendung und Enttäuschung aber sind keine Kategorien im Geschäftsleben. Im Geschäftsleben zählt etwas anderes: Ob es etwas bringt oder nicht – man muss seine ganze Energie aufwenden.

Ist derzeit ein günstiger Moment, als Ausländer in Russland zu investieren?

Ja. Die Eintrittsschwelle ist niedrig. Es gibt gute Angebote und kein schlechtes Investitionsklima. Und noch eines: Die Sanktionen, die Rubelabwertung und der sinkende Wohlstand haben dazu geführt, dass eine große Aktivität im Land zu bemerken ist. Früher sind viele im Ausland unterwegs gewesen. Nun wird das Geschäft im Inland belebt. Natürlich kann man immer auch verlieren. Aber derzeit ist die Wahrscheinlichkeit weitaus geringer als vorher, weil mehr Leute an besseren Zuständen im Land interessiert sind.

Welche Sektoren außerhalb der Landwirtschaft sind noch attraktiv?

Jeder. Anlagenbau, Industrie, Pharma,...

Gerade vom derzeit viel bejubelten Agrarsektor weiß man, dass er immer große Probleme hatte, qualifiziertes und zuverlässiges Personal in der Provinz anzuheuern.

Das hält an. Da kann man nichts machen. Es ist eben so, dass wir verwöhnt waren, weil lange Zeit riesige Mengen an Petrodollars ins Land geflossen sind. Viele haben es verlernt zu arbeiten und haben sich daran gewöhnt, mehr zu bekommen, als sie geben können. Viele müssen umlernen.

Sie haben immer eng mit Europa gearbeitet. Gibt es Expansionspläne?

Pläne bestehen. Aber wir arbeiten jetzt über Venture-Capital-Fonds, etwa im Gesundheitswesen, in der Biotechnologie usw. Aber so große Zukäufe wie vor Jahren gibt es nicht. Früher haben wir gekauft und uns gewundert, dass alles so billig ist, bis wir mit der europäischen Realität konfrontiert wurden, die etwa große Metallurgiefabriken unrentabel macht und an den Rand drängt, wo Energieressourcen billig und ökologische Anforderungen niedriger sind.

Gerade Sie, da Sie in 35 Ländern arbeiten, wissen um die Bedeutung des Images. Die Ukraine-Politik hat das Image Russlands – vor allem in seinen Nachbarländern – nicht erhöht. Spüren Sie das beim Geschäft?

Ich würde nicht sagen, dass wir es sehr stark spüren. Wenn wir nicht auf der politischen, sondern auf der wirtschaftlichen Ebene kommunizieren, so bestehen hier ganz andere Beziehungen.

Aber sie gehen doch ineinander über. Und der Imageschaden hält lang an, wie man im Fall Gazproms sieht, dessen Machtdemonstrationen vor zehn Jahren bewirkten, dass die EU gegenüber seinem eigentlich zuverlässigen Lieferanten bis heute skeptisch ist.

Alle Imagekonsequenzen dauern lang an. Damit muss man leben.

Ich verstehe also richtig: Das Imageproblem durch die Ukraine-Politik besteht?

Das würde ich so nicht sagen. Dort wie da besteht es, dort wie da ist die Imageveränderung auch ein Vorteil.

In Russland beginnt man gerade wieder, einige Unternehmen zu privatisieren. Welche Fehler sollte man dabei vermeiden?

Würde ich im Weißen Haus (Regierung; Anm.) sitzen, könnte ich es sagen. Dort sitzen gescheite, fortschrittliche Leute. Ich habe genug eigene Probleme. Schauen Sie auf meinen Schreibtisch!

Ich sehe, dass Arbeit für Sie offenbar die größte Befriedigung ist.

Es gibt Leute, die sind für den Urlaub geschaffen, im Urlaub bekommen sie Energie, werden kreativ. Und dann gibt es Leute, die für die Arbeit geschaffen sind. Von denjenigen, die beides können, habe ich wenige getroffen. Ich bin leider für die Arbeit prädestiniert. Aber mir gefällt diese Prädestination.

Eben ärgerlich, dass prädestinierte Unternehmer in Russland oft an der Arbeit gestört werden.

Wenn man ein Projekt angeht, dann muss man alles durchrechnen, um niemandem auf die Füße zu treten. Wenn man in dir nicht einen Konkurrenten, sondern einen Feind sieht, den man stören muss, dann ist das in erster Linie deine Schuld. Es ist dein Risiko. Du warst bereit, dieses Risiko auf dich zu nehmen. Du hast abgewogen und gerechnet. Beschuldige daher in erster Linie dich selbst!

Steckbrief

Wladimir Jewtuschenkow (67)
ist Gründer und Mehrheitseigentümer des russlandweit größten Mischkonzerns, Sistema.

Im September 2014
wurde er wegen Geldwäscheverdachts drei Monate unter Hausarrest gestellt, was die Geschäftswelt schockierte und nach der berühmten Yukos-Affäre als zweite Großattacke der Behörden gegen Privatunternehmer gedeutet wurde.

Jewtuschenkow
wurde nicht verurteilt, musste aber den zuvor aus den Händen des nach Österreich geflüchteten Gouverneurssohns Ural Rachimow gekauften Ölkonzern Baschneft, einen der größten im Land, an den Staat übergeben.

Der Verlust des
Ölkonzerns reduzierte sein Vermögen. Mit 2,4 Mrd. Dollar nimmt Jewtuschenkow aber auf der russischen „Forbes“-Reichenliste immerhin Platz 34 ein.

Vor der Gründung
von Sistema 1993 war der verheiratete Vater zweier Kinder Leiter des Moskauer Staatskomitees für Technik.

Sistema

DER KONZERN

AFK Sistemabeschäftigt 145.000 Mitarbeiter in 35 Ländern.

Kerngeschäft ist der landesweit führende Mobilfunkanbieter MTS mit knapp 108 Millionen Kunden.

Weitere Sparten
sind die Holzindustrie mit 5,5 Millionen Hektar Waldbestand, die Agrarwirtschaft, Raketen- und Antriebstechnik und Russlands größte Kinderwarenkette, Detsky Mir, an der sich Chinas Investfund RCIF beteiligt hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2016)

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