Kein Flug ins Ungewisse

Bombardier´s C Series aircrafts are assembled in their plant in Mirabel, Quebec
Bombardier´s C Series aircrafts are assembled in their plant in Mirabel, Quebec(c) REUTERS (CHRISTINNE MUSCHI)
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Hinter der Entwicklung einer Luftfahrtindustrie mit 700 Unternehmen und mehr als 180.000 Beschäftigten in Kanada stecken nicht nur Unternehmergeist und Innovationskraft, sondern auch ein politischer Plan.

Die Sicherheitsleute haben kein Verständnis für Vergesslichkeit. Wer sein Handy am Empfang nicht abgegeben hat, wird beinhart zurückgeschickt. „Keine Handys, keine elektronischen Geräte“, steht in großen Lettern geschrieben. Willkommen bei Magellan Aerospace.

Zehn Grad unter null, ein sonniger Frühlingsmorgen in Winnipeg. „Das nenne ich einen warmen Empfang“, meint auch Tim Feduniw von der örtlichen Agentur für Wirtschaftsförderung. „Wenn es für eine Industrie sinnvoll ist, an einen Ort mit so niedrigen Temperaturen zu gehen, dann für die Luftfahrtindustrie“, sagt Feduniw. An manchen Tagen hat es unter minus 40 Grad in der Hauptstadt das Bundesstaates Manitoba. An 200 Tagen im Jahr liegt die Temperatur unter dem Gefrierpunkt. An diesem Morgen wundern sich also nur die Besucher aus Europa über die Jogger in kurzen Hosen.

Und Besucher aus Europa sind auch bei Magellan häufig zu Gast. Allein an diesem Tag geben sich Mitarbeiter von Rolls Royce, BAE Systems oder Siemens die Türklinke in die Hand. Magellan Aerospace zählt zu den Prunkstücken der kanadischen Luftfahrtindustrie.


Raketen und Satelliten. „Wir haben mit Wasserflugzeugen angefangen und fliegen heute ins Weltall“, erzählt David O'Connor. Er leitet den Rüstungs- und Raumfahrtbereich des Unternehmens. 3000 Menschen arbeiten bei Magellan. In den riesigen Produktionshallen sind nur wenige Mitarbeiter zu sehen. Dafür umso mehr Technik, riesige Apparaturen. Durch kleine runde Fenster dürfen die Besucher in die große Halle gucken, in der an drei Weltraumsatelliten gebastelt wird. Techniker in weißen Overalls und Hauben erinnern eher an ein Operationsteam als an Industriearbeiter. „2018 werden wir drei Satelliten ins All befördern“, sagt O'Connor. Auch in den anderen Produktionshallen ist genaues Hinschauen nicht möglich. Dort werden Teile für die F-35 produziert. Also für den Tarnkappen-Kampfjet von Lockheed Martin.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, handelt nicht nur von innovativen Unternehmen in der Luftfahrtbranche, sie handelt vielmehr von einem Plan. „Kanada hat eine nationale Wirtschaftsstrategie“, sagt Jim Quick, Präsident der kanadischen Luftfahrtindustrie. Irgendwann einmal entstand die politische Idee, rund um den großen Player Bombardier einen Luftfahrt-Cluster zu schaffen. Heute gibt es in Kanada allein in dieser Branche 700 Unternehmen mit 180.000 Mitarbeitern. Kanada avancierte weltweit zur Nummer fünf in der Luftfahrtindustrie. Warum dies in relativ kurze Zeit gelungen ist, liegt für Jim Quick auf der Hand: „Industrie und Regierung sind Partner.“

Zurück ins kalte Winnipeg. Auf einem mit Stacheldraht umzäunten Testgelände in der Nähe des Flughafens geht es kilometerlang durch unbebautes Land. Irgendwann taucht ein Gebäude auf. Das General Electric Aviation Test and Development Centre. Hier betreibt der US-Konzern in Zusammenarbeit mit der Universität von Manitoba einen Prüfstand für Flugzeugturbinen. „Die größte Gefahr für Turbinen ist, dass sie vereisen“, sagt Jorge Viramentos von General Electric. Die Außentemperaturen bei einem Flug liegen bei bis zu 60 Grad unter null. „Hier in Winnipeg müssen wir nicht einmal in die Luft, um einen Flug zu simulieren“, scherzt er. Tatsächlich kommt es vor, dass die Tests wegen zu großer Kälte abgebrochen werden müssen. In diesem riesigen Open-Air-Windkanal werden 60 Prozent aller Flugzeugturbinen getestet.

Winnipeg mit seinen 800.000 Einwohnern ist – zumindest auf den ersten Blick – nicht gerade ein einladender Ort. Aber er bietet dennoch vielen Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Jedes Jahr siedeln sich 15.000 Menschen an. „Derzeit kommen viele aus der Ukraine und von den Philippinen“, erzählt Greg Dandewich. Er managt die städtische Betriebsansiedlungsagentur. Was Winnipeg ausmacht? „Hier schaut nicht einmal die Wirtschaftskrise vorbei“, scherzt Dandewich. Die Arbeitslosenquote liegt bei fünf Prozent. Tatsächlich ist Winnipeg eine florierender Industriestandort. Hier hat New Flyer seinen Stammsitz, der zweitgrößte Bushersteller Nordamerikas, hier baut Bühler seit fast 90 Jahren Traktoren.

Es sei also ein Gerücht, dass sich in diese Gegend nur die Eisbären wohlfühlen. Die haben sich im Zoo von Winnipeg derart vermehrt, dass man versucht hat, einige Tiere im Norden auszuwildern. Ohne großen Erfolg: Die Bären kamen zurück.

Bombardier baut Leute ab. Nein, es ist nicht alles rosig in der kanadischen Wirtschaft, auch nicht in der Luftfahrtindustrie. Im Februar gab Bombardier bekannt, knapp zehn Prozent seiner weltweit 70.000 Mitarbeiter zu kündigen. Und auch die 200 Lieferanten, viele Klein- und Mittelbetriebe, sind von dieser Entwicklung betroffen.

Was sagen die örtlichen Repräsentanten in Montreal, wenn Bombardier etwa die Produktion in Länder wie Marokko oder Mexiko auslagert? „Jeder versteht die Dynamik eines Weltkonzerns“, sagt Stéphane Paquet, der Vizepräsident von Invest Greater Montreal. Also jener Mann, der eigentlich dafür sorgen soll, dass sich Unternehmen im Großraum Montreal ansiedeln. Unternehmen wie Fusia aus dem französischen Toulouse. Seit einigen Jahren hat es in Montreal eine Niederlassung, in der es mithilfe von 3-D-Druckern komplexe Flugzeugteile herstellt. In Kanada widmet sich der mittelständische Betrieb vor allem der unbemannten Luftfahrt. Auf dem Gebiet der Drohnentechnologie zählt Kanada zur Weltspitze (siehe nebenstehenden Bericht).

Natürlich siedeln sich Betriebe rund um Großkonzerne wie Bombardier an, aber viele legen das Mäntelchen des reinen Zulieferers schnell ab und entwickeln sich weiter – zu Nischen-Playern. „Wir beobachten, dass viele Klein- und Mittelbetriebe heute ehemalige Bombardier-Mitarbeiter einstellen“, sagt Paquet. „Geht es der Branche gut, profitieren alle. Geht es ihr schlecht, geht es nicht allen schlecht“, sagt er und preist – wie es sein Job ist – die Vorteile Montreals an. Die Zweisprachigkeit, den Währungsvorteil gegenüber dem US-Dollar. „Wer hier investiert, genießt alle Vorteile der USA, ohne in den USA zu sein“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Montreal biete einen Markt mit 500 Millionen Menschen vor der Haustür, gut ausgebildete Mitarbeiter, niedrige Unternehmenssteuern, wenig Bürokratie. Nur eines gibt es nicht, betont Paquet: „Es gibt keine Schecks an die Firmen.“ Sprich: Das Steuergeld fließt in gute Rahmenbedingungen, nicht in direkte Förderungen.

Im Werk von Bombardier in Montreal sieht man von Einsparungen wenig. Hier wird schließlich auch die C-Serie gebaut. Mit den kleinen Jets für 100 bis 160 Passagiere wollen die Kanadier die großen Konkurrenten Airbus und Boeing überflügeln. Die Devise lautet: weniger Treibstoffverbrauch. Bei dem niedrigen Ölpreis ist das vorerst kein schlagendes Verkaufsargument.

Dennoch ist Sébastien Mullot, Direktor der C-Serien, vom Erfolgsrezept überzeugt. „Die Maschine besteht zu 45 Prozent aus Karbonfaser“, sagt er. 2500 Menschen arbeiten auf dem riesigen Areal, sechs Flugzeuge können gleichzeitig gebaut werden. Pro Monat verlassen zwei Maschinen das Werk.

Simulatoren. Langsam kreist der Hubschrauber um die Freiheitsstatue, ein kleiner Pilotenfehler, die Maschine gerät ins Trudeln und zerschellt im Hafenbecken New Yorks. „Gar nicht so schlecht für den Anfang“, meint der Trainer im Flugsimulator. Hier auf dem Fabriksgelände von CAE in Montreal ist man nicht überall so entspannt wie beim Hubschraubersimulator. Der Simulator gleich nebenan steckt in einer riesigen schwarzen Box. „Der ist für Militärmaschinen“, erklärt Unternehmenssprecherin Hélène Gagnon. CAE beschäftigt 8000 Mitarbeiter, 5000 davon im Ausland. Der Konzern stellt weltweit 70 Prozent aller Flugsimulatoren her. 260 stehen in 30 Ländern. Dort werden jedes Jahr 120.000 Trainings abgehalten, werden 1000 neue Piloten ausgebildet. CAE schult nicht nur für Fluglinien, der Konzern hat auch eigene Piloten, die an Airlines geleast werden.

Mittlerweile simuliert das 1957 gegründete Unternehmen nicht nur Flüge, sondern auch den Menschen selbst. An den von CAE Healthcare gebauten Puppen üben Mediziner schwierige Eingriffe, trainieren Soldaten die Versorgung Schwerverletzter, üben Sanitäter Erste Hilfe. So wie bei den Flugsimulatoren handelt es sich auch bei den Puppen um Hightech-Geschöpfe, die mit Tausenden Sensoren ausgestattet sind.

Der Bruchpilot aus Europa braucht an diesem Tag zum Glück keine Erste Hilfe. Auch wenn ihm im Flugsimulator die verblüffend lebensechte Animation kurz den Atem geraubt hat.

Fakten

1,5 Tage benötigt man in Kanada im Schnitt, um ein Unternehmen zu gründen. In den USA sind es sechs, in Deutschland 10,5 Tage.

700 Unternehmensind in Kanada in der Luftfahrtindustrie tätig, sie beschäftigen 180.000 Menschen und sorgen für einen Umsatz von 29 Milliarden Kanadische Dollar. Von 2008 bis 2013 stiegen die Investitionen in Forschung und Entwicklung in dieser Branche um 40 Prozent.

Kanadas Wirtschaft wuchs zwischen 2011 und 2014 im Schnitt um 2,1 Prozent, seit 2009 wurden 1,3 Millionen neue Jobs geschaffen. Acht von zehn Arbeitsplätzen sind Vollzeitjobs in der Privatwirtschaft.

17,5 Prozent machen in Kanada im Schnitt die Unternehmenssteuern aus. In Deutschland liegen sie bei 26,5 Prozent in den USA im Schnitt bei 34,7 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2016)

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