Der Euro-Stoxx-50 bricht um sieben Prozent ein. Der Crash an den Börsen hat Experten zufolge weltweit fünf Billionen Dollar an Börsenwert vernichtet.
Noch gestern herrschte weltweit Optimismus an den Finanzmärkten. Heute sind die Europäischen Leitbörsen im Verlauf nach dem britischen "Ja" zum Austritt aus der Europäischen Union (EU) massiv unter die Räder gekommen. Bereits an den asiatischen Börsen waren die Kurse nach dem Brexit-Votum eingebrochen. Der japanische Nikkei-225 stürzte um fast acht Prozent ab. An der Wall Street werden heute ebenfalls herbe Verluste erwartet. Durch die Bank gab es massive Kurseinbrüche zu verzeichnen, die Investoren flüchteten in sichere Häfen wie Gold und deutsche Anleihen.
In Europa gab es am frühen Nachmittag schwere Abschläge zu verzeichnen. Der Euro-Stoxx-50 knickte gegen 13.50 Uhr um 9,18 Prozent auf 2.759,04 Punkte ein. Nach dem Schock zum Handelsstart hat der Index damit aber vorerst einen Boden gefunden. Der deutsche DAX konnte sein anfängliches Minus sogar etwas eindämmen und notierte im Mittagshandel bei 9.522,54 Punkten, das ist ein Minus von 7,16 Prozent.
Auch an den US-Börsen hat das Votum der Briten die Märkte klar ins Minus gedrückt. Der Dow Jones in New York gab gleich zu Handelsbeginn um 500 Punkte nach. Gegen 15.50 Uhr lag der Dow Jones Industrial Index um 2,53 Prozent tiefer bei 17.555,93 Zähler. Der S&P-500 Index verlor 2,63 Prozent. Der Nasdaq Composite Index gab um 2,98 Prozent auf 4.763,57 Einheiten nach. Damit kamen die US-Indizes verhältnismäßig glimpflich davon.
Moderates Minus für britischen FTSE
Noch schlimmer erwischte es die Börsen in Mailand und Madrid, die um zehn bzw. sogar zwölf Prozent absackten. In Spanien wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt. Der heimische Leitindex ATX stand zu Mittag mit einem Minus von 7,0 Prozent bei 2085 Punkten. Im Frühhandel lag der ATX zeitweise zweistellig im roten Bereich.
Ein vergleichsweise moderates Minus verzeichnete dagegen der britische FTSE-100, der 4,39 Prozent verlor und zuletzt bei 6.060,02 Stellen stand. Börsianer verwiesen als möglichen Grund für die relative Stärke des "Footsie" auf den Absturz des britischen Pfund. Auch der angekündigte Rücktritt von Premierminister David Cameron, der offiziell gegen einen Brexit eingetreten war, sorgte vorerst nicht für stärkere Abschläge.
Crash hat fünf Billionen Dollar vernichtet
Auf Talfahrt gingen auch die Ölpreise. Der Kurs für die Nordseesorte Brent knickte zum europäischen Handelsstart um rund fünf Prozent auf 48,30 Dollar ein, der US-Ölpreis WTI ging in gleichem Ausmaß zurück und notiert bei rund 47,5 Dollar.
Der Crash an den Börsen hat Experten zufolge weltweit fünf Billionen Dollar (4,39 Billionen Euro) an Börsenwert vernichtet. Dies entspreche dem Doppelten der gesamten Wirtschaftsleistung Großbritanniens und 17 Prozent der Wirtschaftsleistung der G7-Staaten im vergangenen Jahr, schrieb Aktienstratege Christian Kahler von der deutschen DZ Bank in einem Kurzkommentar. Allein im deutschen Leitindex DAX hätte sich eine Marktkapitalisierung von 95 Mrd. Euro "in Luft aufgelöst".
In einem historischen Referendum haben die Briten für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt: Nach offiziellen Angaben votierten 51,9 Prozent für den Brexit. Insgesamt haben sich 17,4 Millionen Menschen für den Austritt aus der EU ausgesprochen. 16,1 Millionen Menschen und damit 48,1 Prozent der Beteiligten stimmten dagegen für den Verbleib in dem Staatenbund. (c) APA/AFP/GEOFF CADDICK (GEOFF CADDICK)
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat die Entscheidung der Briten für einen Brexit bedauert. "Ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht", sagte er Freitag früh. Er stehe zu dem Thema mit seinen G-7-Partnern in engem Kontakt. "Europa wird jetzt zusammenstehen", versicherte er. "Gemeinsam müssen wir das Beste aus der Entscheidung unserer britischen Freunde machen." APA
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, rechnet mit einem raschen Eingreifen der Zentralbanken. "Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass sie beruhigen und Vertrauen schaffen", sagte der frühere EZB-Abteilungsleiter. Er erwarte ein starkes Signal der führenden Notenbanken, um die Panik an den Finanzmärkten zu lindern. Er befürchte kurzfristig große Verwerfungen an den Finanzmärkten und mittelfristig eine deutliche Abkühlung der Weltwirtschaft. Die Presse (Clemens Fabry)
"Das ist kein guter Tag für Europa. Die Konsequenzen lassen sich noch nicht vollständig absehen. Sie werden aber für alle Seiten negativ sein", erklärte Deutsche-Bank-Chef John Cryan. "Sicherlich sind wir als Bank mit Sitz in Deutschland und einem starken Geschäft in Großbritannien gut darauf vorbereitet, die Folgen des Austritts zu mildern." Cryan, der selbst Brite ist, betonte, es schmerze ihn, dass Europa für viele seiner Landsleute "offenbar an Attraktivität verloren" habe. Reuters
IV-Präsident Georg Kapsch bedauert die Entscheidung der Briten, die EU verlassen zu wollen. Freilich sei das Votum zu akzeptieren. Nun sei die EU gefordert, "rasch Antworten für ihre Zukunftsfähigkeit zu geben, um die Vertrauenskrise zu lösen". Obwohl das Netz zwischen den bleibenden EU-Staaten fest genug gewoben sei, müsse man eine Destabilisierung erwarten. Das Ergebnis zeige auch, wie ernst man die Europaverdrossenheit vieler EU-Bürger nehmen müsse. Die Presse (Clemens Fabry)
Wifo-Chef Karl Aiginger hofft, dass die Entscheidung der Briten, aus der EU auszutreten, nun auch eine Chance sei, dass die EU lange ausstehende Reformen angeht und Maßnahmen ergreift, um wieder ein dynamisches Wachstum zu erzielen. "Es könnte einen Ruck geben" ist er optimistisch.In der EU liege seit Jahren die Strategie Europa 2020 vor, werde aber nicht umgesetzt. "Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für Europa zu sagen: das wollen wir machen", so Aiginger. APA/HANS PUNZ
Die direkten Effekte eines Ausscheidens Großbritanniens aus der EU auf die österreichische Wirtschaft werden "relativ gering" sein, sagte IHS-Konjunkturexperte Helmut Hofer. Für die britische Wirtschaft werde der Austritt hingegen jedenfalls negative Effekte haben, darin seien sich alle Ökonomen einig, so Hofer. Ein Überschwappen dieser negativen Effekte auf Österreich, hält Hofer ebenfalls für gering. Viele andere Länder seien mehr betroffen. APA/GEORG HOCHMUTH
Man sollte den Montag abwarten, denn bis dahin würden sich Banken und Händler ihre Strategien überlegen, empfiehlt OeNB-Chef Ewald Nowotny. Wirtschaftlich dürfte sich der Brexit in Österreich nur wenig auswirken. Nowotny verwies im Gespräch mit der APA auf eine Untersuchung der Ratingagentur Standard & Poor's (S&P), wonach Österreich unter allen Ländern mit einem Handelsüberschuss gegenüber Großbritannien vom Brexit am wenigsten betroffen sei. Grundsätzlich sei aber "die politische Seite viel gravierender als die wirtschaftliche", meinte der OeNB-Chef. REUTERS
Der als Rückgrat der deutschen Wirtschaft geltende Maschinenbau fürchtet einen Auftragsrückgang nach der Entscheidung der Briten. "Die Entscheidung für den Austritt Großbritanniens aus der EU ist ein Alarmsignal für die Unternehmen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands VDMA, Thilo Brodtmann. Der Brexit werde den Industriestandort Europa viel Vertrauen bei Investoren kosten. "Es wird nicht lange dauern, bis unsere Maschinenexporte nach Großbritannien spürbar zurückgehen werden." VDMA
Die Anlageexperten der Erste Group gehen davon aus, dass die Investoren auch nach der unmittelbaren Marktreaktion am heutige Tag mittelfristig Risiko meiden und Risikoanlagen dementsprechend unter Druck bleiben werden. "Wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen, vor allem seitens der Zentralbanken, werden die negativen Folgewirkungen mildern, aber nicht komplett abfedern können", so Peter Szopo, Aktien-Chefstratege der Erste Asset Management in einer Ersteinschätzung. Reuters
Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl bedauert die Entscheidung der Briten, aus der EU auszutreten, sieht darin auf EU-Ebene aber eine Chance für einen Neubeginn. Jetzt liege es an den EU-Entscheidungsträgern, die von den Briten gewünschte Trennung "mit kühlem Kopf" rasch zu verhandeln und abzuwickeln. Die Phase der Unsicherheit müsse so kurz wie möglich gehalten werden. In Österreich sei es Aufgabe der Regierung und auch der Sozialpartner, allfällige längerfristige negative Auswirkungen etwa bei Wachstum oder am Arbeitsmarkt abzuwenden, betonte Leitl. APA/HERBERT NEUBAUER
Dem Chef der voestalpine, Wolfgang Eder, fällt es schwer, die Entscheidung der Briten gegen die EU zu akzeptieren - auch wenn das natürlich sein müsse. Trotz der Scheidung könne in Verhandlungen zwar ein konstruktiver Weg einer weiteren Zusammenarbeit gefunden werden. Dominoeffekte in anderen EU-Ländern seien aber nicht auszuschließen, gibt der Manager zu bedenken. "Eines ist aber vollkommen klar: Europas Zukunft kann nicht in einem neuen Nationalismus liegen" , so Eder. REUTERS
Brexit: "Konsequenzen werden für alle Seiten negativ sein"
"Alle falsch positioniert"
Die Entscheidung für den Austritt aus der Union traf die Akteure an den Finanzmärkten völlig unerwartet. "Alle sind falsch positioniert", sagte ein Börsianer in der Früh. "Keiner hat damit gerechnet, dass die Briten wirklich austreten. Jetzt gibt es immensen Absicherungsbedarf."
Dementsprechend waren "sichere Häfen" gesucht. So sprang Gold um 4,4 Prozent auf über 1.300 Dollar nach oben und steht nun bei 1.322,95 Dollar. Trotz des größten Tagesgewinns beim Goldpreis seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 hätte es laut den Commerzbank-Experten für das Edelmetall noch höher hinauf gehen können. Doch der starke US-Dollar habe einer solchen Entwicklung vorgebeugt.
Pfund bricht ein
Die britischen 10-Jahresrenditen sind nach dem Ja der Briten deutlich gesunken. Innerhalb nur eines Tages sanken sie von 1,35 auf nunmehr 1,073 Prozent. Das ist der für das Land billigste Wert für die Refinanzierung seit mehr als zehn Jahren.
"An der Börse muss man auch stets das Unmögliche denken", sagte Marktexperte Daniel Saurenz. Dies hätten die Investoren am zuletzt offenbar nicht mehr getan. Der bisher schwärzeste Tag im DAX war 1989 mit einem Rutsch um 12,81 Prozent. Um diesen Negativrekord einzustellen, müsste der DAX aber deutlich unter 9.000 Punkte abrutschen.
Während das Pfund einbrach und auf den tiefsten Stand seit 31 Jahren fiel, war vor allem der japanische Yen als Fluchtwährung gesucht.
Bank of England stellt Milliarden bereit
Die britische Notenbank rechnet für Großbritannien nach dem Votum mit einer Zeit der Unsicherheit. Die Zentralbank stehe aber bereit, das Funktionieren der Märkte zu garantieren, sagte der Chef der Bank von England (BoE), Mark Carney am Freitag in London. Zur Geldversorgung der Finanzwirtschaft könnten zusätzliche 250 Mrd. Pfund (326 Mrd. Euro) abgerufen werden.
Wenn notwendig, könne die britische Notenbank auch erhebliche Liquidität in Fremdwährung bereitstellen. Die Bank von England will zudem prüfen, ob sie weitere Schritte in den kommenden Wochen einleiten wird.