Experten warnen vor einer verschärften Eurokrise durch Länderabwertungen der Ratingagenturen.
Wien/Frankfurt. Wird durch das Brexit-Votum die Abwertungsspirale bei den Ratingagenturen in Gang gesetzt? Ulrich Stephan, Chefanlagenstratege der Deutschen Bank, sieht das jedenfalls so. Der Brexit könnte die Eurokrise wieder verschärfen, meint er. „Ratingagenturen könnten nun durchaus wieder anfangen, Staaten abzuwerten“, sagte er dem „Tagesspiegel“. Davon dürfte neben Großbritannien vor allem Südeuropa betroffen sein.
„Das kann dann schnell eine Abwärtsspirale auslösen. Denn im nächsten Schritt könnten auch die Banken in diesen Ländern unter Druck geraten.“ Am Ende könnte die EZB gezwungen sein, ihr Anleihekaufprogramm zu verlängern.
Am Freitag hat die US-Ratingagentur Moody's bereits Österreich die bisherige Topbonität entzogen. Grund dafür war allerdings nicht der Brexit. Entscheidend seien schwache mittelfristige Wachstumserwartungen gewesen, so die Begründung. Das bisherige Aaa für langfristige Verbindlichkeiten wurde um eine Stufe auf Aa1 herabgesetzt. Das geänderte Rating habe keine unmittelbaren Auswirkungen auf Österreichs Staatsfinanzen, teilte Finanzminister Hans Jörg Schelling mit. „Der Standort braucht aber weitere Wachstumsimpulse.“ Reformen könnten allerdings kein isoliertes Projekt des Finanzministers sein, so Schelling. Als Vorbild nannte Schelling Länder wie die Niederlande, die „uns vormachen, wie man es richtig macht“. Setze man die richtigen Reformen, bekäme man auch das Toprating wieder zurück wie die Niederlande.
Nach der Entscheidung der Briten für einen EU-Austritt erwarten Ökonomen gravierende wirtschaftliche Einbußen in Europa. Direkte nennenswerte Auswirkungen auf Österreich sehen hiesige Experten indes zumindest vorerst nicht. Am schmerzhaftesten werde der Brexit die Briten selbst treffen, urteilte die deutsche Bertelsmann-Stiftung.
„Es ist eine Situation, in der alle verlieren, die EU-Mitgliedsländer und ganz besonders dramatisch Großbritannien“, sagte Andreas Esche, Leiter des Wirtschaftsbereichs der Stiftung. Schlechte Nachrichten für London drohen aus Asien. Chinesische Unternehmen werden wohl weniger als bisher im Königreich investieren. Chinas Vizeaußenminister, Li Baodong, warnte auf dem Sommer-Davos genannten Weltwirtschaftsforum in Tianjin zwar vor Panik. Doch Experten erwarten einen Rückzug der Chinesen, die in den vergangenen Jahren in kein anderes EU-Land mehr investiert haben. (ag.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2016)