Putin ohne Output

Wladimir Putins Reformeifer liegt zehn Jahre zurück. Heute stützt sich das Regime geradezu auf Strukturmängel.
Wladimir Putins Reformeifer liegt zehn Jahre zurück. Heute stützt sich das Regime geradezu auf Strukturmängel.(c) REUTERS (SPUTNIK)
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Außenpolitisch steht der Kreml-Chef seinen Mann. Zu Hause aber nützt er seine Beliebtheit nicht, um das Land mit Reformen vor einer Katastrophe zu bewahren. Das hat Kalkül.

Wer unter Russlands Milliardären und Politikern einen nüchternen Rechner und Analysten zur Lage der Nation sucht, wird bald bei Sergej Petrov landen. Schließlich hat der 62-jährige Ex-Sowjetdissident und Ex-Militär sein Geld nicht im simplen Rohstoffsektor, sondern in der konkurrenzreicheren Autobranche gemacht. Später ist er dadurch aufgefallen, dass er als einer von nur vier Abgeordneten nicht für die Annexion der Krim gestimmt hat.

Was er aber dieser Tage im Interview mit der russischen Zeitung „Wedomosti“ sagte, hat es richtig in sich. Und sollte er auch nur ansatzweise recht haben, steht Russland vor dem Abgrund. „Ich weiß, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, aus dem es ziemlich sicher keinen evolutionären Ausweg mehr gibt“, sagte er da. „Wir haben den Point of no Return fast überschritten, und das System wird wahrscheinlich – wie jede unflexible Struktur – mit einem großen Krach fallen.“ Schlimmer noch: „Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass Russland in seinen jetzigen Grenzen nicht bis zum Jahr 2020 bestehen wird.“

Keine vier Jahre mehr und ein Crash? Das schlägt sich mit dem Image des starken Mannes, das der autoritäre Langzeitherrscher Wladimir Putin außenpolitisch abgibt. Genau der Mann, der sich mit den USA anlegt, soll sein Land nicht im Griff haben? Und genau der Mann, der in seiner ersten Amtszeit wichtige Reformen durchboxte, soll nun trotz ungleich größerer Macht nicht die nötigen Bedingungen schaffen können, dass es beizeiten doch aufblüht?

In der Tat decken sich die außenpolitischen Erfolge mit den innen- und wirtschaftspolitischen nicht. Und auch wenn der Kreml-Chef eine haushohe Zustimmungsrate von 82 Prozent im Volk hat, so greift er doch jene heißen Eisen nicht an, die das Land auf dem Weg in die Zukunft behindern. „Putin will keine Reformen“, hält Jewgeni Gontmacher, Ökonom am Moskauer Institut für moderne Entwicklung, lapidar fest.

Wachstumsmodelle. Als Beweis für den Stillstand kann nicht nur die Degeneration staatlicher Institutionen, sondern auch die Makroökonomie selbst herhalten. Seit zwei Jahren steckt Russland in einer schweren Rezession. Auch wenn sich eine Stabilisierung abzeichnet, werde doch eine Stagnation folgen, die Jahre dauern könne, so Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew kürzlich.
Gewiss, für den Verfall des Ölpreises seit 2014 kann Putin nichts. Für die Verwerfungen mit dem Westen infolge der Ukraine-Abenteuer sehr wohl. Letztlich aber haben diese beiden Momente ohnehin nur die strukturelle Krise verschärft, die sich 2012 abzeichnete.

Im Wesentlichen besteht sie darin, dass das vorherige Wachstumsmodell, das auf dem hohen Ölpreis sowie exzessivem Privatkonsum basiert und Wachstumsraten von über sieben Prozent generiert hat, ab spätestens 2013 ausgedient hat. 2013 schaffte Russland trotz des damals noch hohen Ölpreises nur mehr ein Wachstum von 1,3 Prozent, das sich 2014 halbierte. Man hätte die Entwicklung kommen sehen können, so Wladimir Mau, Rektor der staatlichen Akademie für Volkswirtschaften: Doch in der Boomzeit habe man nur auf sozialpolitische Stabilität abgezielt, auf das Investitionsklima sei nicht geachtet worden. Dabei sind sich Experten einig, dass der Aufschwung nur von Investitionen getragen werden kann.

Man möchte fragen, warum Putin in 15 Jahren an der Macht das Wirtschaftsmodell nicht geändert hat, so Gontmacher. Er antwortet selbst: „Weil die Elite und Wladimir Wladimirowitsch (Putin) selbst offenbar dachten, dass der Überfluss aus dem Öl- und Gasverkauf für immer anhalten werde.“

Die Überwindung der Abhängigkeit von Rohstoffen ist nicht einfach, wie vergleichbare Länder zeigen. Aber man kam auf diesem Weg gar nicht voran, wird aus diversen Berichten ersichtlich. Der Beitrag der Klein- und Mittelunternehmen, der Innovationsmotoren, zum BIP betrage nur 15 Prozent, konstatierte etwa die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in ihrer Analyse „Diversifying Russia“ vor drei Jahren: Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Zurückdrängung der Staatseinmischung in die Wirtschaft und der Etablierung eines Rechtsstaats ließen zu wünschen übrig.

Einige Erfolge. Putin weiß nur zu genau, woran es krankt, und hat in einem Ukas vom Mai 2012 „Über die langfristige staatliche Wirtschaftspolitik“ Anweisungen gegeben, woran zu arbeiten ist.

Stellenweise erzielte er Erfolge. Ist Russland im Geschäftsklimaindex Doing Business der Weltbank 2012 auf Platz 112 gelegen, so kam es 2014 auf Platz 62, 2015 auf Platz 51. Der Fortschritt ist eindeutig. Der Schönheitsfehler: Es geht beim Ranking hauptsächlich um technische Indikatoren wie den Zugang für Firmen zur Stromversorgung. Zudem habe die Weltbank 2014 die Methode zugunsten der Schwellenländer geändert, erklärt Sergej Guriev, als erster Russe Chefökonom der EBRD, auf Anfrage.

Strukturmängel als Stabilisatoren. Die Weltbank gibt zu, dass sie wichtige Strukturparameter wie Korruption, Protektionismus oder Rechtsstaatlichkeit nicht bewertet. Dabei sind das Schlüsselindikatoren. „Genau diese Strukturreformen wird Putin nicht durchführen, denn sie würden sein Regime bedrohen“, sagt Alexej Makarkin, Vizechef des Moskauer Zentrums für politische Technologien, im Gespräch. Die Strukturmängel sind also systemstabilisierend? „De facto ja“, so Makarkin: Privateigentum werde etwa als temporär erachtet. „Mit dem Damoklesschwert, es jederzeit enteignen zu können, erhalten die Machthaber Loyalität.“

Das sieht auch Großunternehmer Petrov so: „Obwohl wir verstehen, dass es ohne Reformen künftig schlechter wird, wählen wir lieber die Katastrophe von morgen als einen sanften Ausweg heute“, sagt er zur „Presse am Sonntag“.

Aber was ist mit jenen dringlichen Maßnahmen, ohne die das Land finanziell ausbluten wird und die von den Bürgern Opfer verlangen? Etwa die viel diskutierte Anhebung des Pensionsantrittsalters und die Beseitigung diverser Frührenten – Überreste aus der Sowjetzeit, als man Militärs oder Schichtarbeiter mit 45 in den Ruhestand entließ? Putin werde solche „Optimierungen im System in die Zeit nach den Präsidentenwahlen 2018 verschieben“, so Makarkin: „Man kann nicht sagen, dass Putin unbedingt feig ist. Aber sein Reformtempo hat er abgebremst.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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