Der große Aderlass des Balkans – und wie er zu stoppen wäre

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Die massive Abwanderung von Jungen und gut Ausgebildeten schadet Südosteuropa. Rumänien stemmt sich nun gegen den Trend.

Wien. Die Flüchtlingswelle des Vorjahres sorgt für fettere Schlagzeilen. Aber die langfristigen Migrationsströme aus Österreichs Nachbarschaft haben andere Dimensionen: 18 Millionen Osteuropäer kehrten vom Fall des Eisernen Vorhangs bis 2012 ihrer Heimat den Rücken und suchten im Westen ihr Glück. Besonders stark war der Aderlass auf dem Balkan, der in diesem Zeitraum über 15 Prozent seiner Bevölkerung von 1990 verlor (siehe Grafik). Die Kurven weisen weiter stark nach oben. Laza Kekic von der Economist Intelligence Unit geht heute sogar von der „erstaunlichen Zahl“ eines Viertels aller Südosteuropäer aus, die im Ausland leben. „Es sind vor allem die Jungen, gut Ausgebildeten und Tatkräftigen“, die dort nun fehlen, erklärte der Experte am Mittwoch bei Wiener Balkankonferenz des hauseigenen Thinktank des britischen „Economist“.

Profitiert haben davon die wichtigen Zielländer: Deutschland, Italien, Spanien, aber auch Österreich. Auch für die EU als Ganzes ist diese Mobilität positiv, zeigt eine aktuelle Überblickstudie des Internationalen Währungsfonds (IWF). Aber den stark betroffenen Herkunftsländern tue der Braindrain nicht gut. Was theoretisch nicht ausgemacht und deshalb unter Ökonomen umstritten ist.

In einfachen Modellen steigt in Staaten mit Abwanderung die Wirtschaftsleistung pro Kopf, weil die Löhne durch das knappere Arbeitsangebot anziehen. Das könnte die Aufholjagd zum westeuropäischen Wohlstandsniveau sogar beschleunigen. In der Praxis aber lassen sich oft die gut ausgebildeten Auswanderer nicht durch schlecht qualifizierte im Land Gebliebene ersetzen. Die Folgen, die sich laut IWF auf dem Balkan zeigen: Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum sind eingebremst. Die Sozialausgaben steigen und belasten die staatlichen Budgets.

Zwar gleichen die Überweisungen der Migranten an die Familien zu Hause einiges aus. Aber sie fördern eher den Konsum als ertragreiche Investitionen. In anderen Weltgegenden kehren viele Migranten später heim, mit reichlich Erfahrung und angespartem Kapital. Dieser segensreiche Brain-Gain bleibt aber in Osteuropa fast völlig aus: Weniger als fünf Prozent kamen bisher zurück. Weitaus die meisten bleiben in der Fremde.

Politiker machen den Anfang

Die Entwicklung auf dem Balkan hat das Zeug zum Teufelskreis: Je geringer die Chancen zu Hause relativ zu jenen im Ausland sind, desto mehr ziehen fort. Mehr noch: Wo gut Ausgebildete sich zusammendrängen, sorgt das für überproportional starke Dynamik – was leider mit negativem Vorzeichen auch umgekehrt gilt. Und am bedenklichsten: In jenen osteuropäischen Ländern, in denen die Korruption regiert und der Rechtsstaat auf schwachen Füßen steht, wandern die meisten jungen Akademiker aus. Womit wenig später genau jene fehlen, die ihr Land besser regieren und rascher vorwärts bringen könnten.

Manuel Costescu will diese Abwärtsspirale stoppen. Der junge Wirtschaftsstaatssekretär aus Rumänien geht mit gutem Beispiel voran: Der frühere Banker bei JP Morgan und Berater bei McKinsey gehört zu dem im Vorjahr eingesetzten Expertenkabinett in der größten und aktuell erfolgreichsten Volkswirtschaft der Region. Wie viele seiner Kollegen gab er einen gut dotierten Job im Ausland auf, um seine Heimat vom Korruptionssumpf zu befreien: „Wir werden schlecht oder gar nicht bezahlt. Aber wir haben wieder ein politisches Projekt, an das wir lang nicht mehr geglaubt haben.“

Eine der ersten Maßnahmen gegen den Braindrain war, ausländische Abschlüsse anzuerkennen, um künstliche Hürden für Heimkehrer abzubauen. Aber Costescu will auch aktiv Anreize setzen. Er ermuntert Unternehmen, ihre Fachkräfte in der Diaspora zu rekrutieren. Und erzählt von ersten Erfolgen: Die Deutsche Bank hat ein Fünftel ihres Personals in Rumänien mit heimgekehrten Expats besetzt, das renommierte Institut für Laserphysik sogar ein Drittel. Es sind vorerst nur kleine Schritte, aber das große Ziel ist klar: „Wir werden den Trend umkehren.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2016)

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