Euroschirm: Der nächste problematische Vertrag

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Symbolbild(c) AP (SVEN KAESTNER)
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Der Vertrag zum Europäischen Stabilitätsmechanismus schafft eine neue mächtige Institution der EU, die schwer zu kontrollieren sein wird. EU-Kritiker warnen seit Wochen mit Halbwahrheiten vor dem ESM-Vertrag.

Wien. Die EU steht vor einer neuen Vertragshürde. Bis Ende nächsten Jahres müssen alle Euroländer und alle weiteren EU-Länder, die daran teilnehmen wollen, den permanenten Euro-Rettungsschirm durch ihre Parlamente ratifizieren. Der 700 Milliarden Euro schwere Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) soll ab 2013, ähnlich dem IWF, Eurostaaten vor der Pleite retten oder deren Insolvenz abwickeln.

Die Stimmung unter EU-Kritikern ist aufgeladen. Im Internet wird seit Wochen mit Halbwahrheiten vor dem ESM-Vertrag gewarnt. Es heißt, er schaffe einen neuen Moloch, der ohne jede Kontrolle und mit umfassender Immunität ausgestattet nach Belieben Gelder der Mitgliedstaaten absaugen kann. Wahr daran ist, dass hier eine mächtige EU-Institution geschaffen wird, für die weder öffentliche Transparenz noch parlamentarische Kontrolle vorgesehen ist. Der Innsbrucker Europarechtler Walter Obwexer, der den Vertrag für die „Presse“ durchforstet hat, ortet denn auch Defizite: „Es gibt keine Kontrolle durch das Europaparlament und auch nicht durch den EU-Rechnungshof. Das ist unverständlich.“

Da die Schaffung des permanenten Euro-Rettungsschirms einer EU-Vertragsänderung gleichkommt, muss der österreichische Nationalrat den ESM-Vertrag bis zum nächsten Jahr mit Zweidrittelmehrheit absegnen.


„Die Presse“ ging den wichtigsten Fragen zum ESM auf den Grund:

1 Wie viel Geld wird der ESM zur Verfügung haben? Was zahlt Österreich ein?

Der ESM soll mit einem Grundkapital von 700 Mrd. Euro ausgestattet werden. 80 Milliarden Euro werden direkt eingezahlt, der Rest ist abrufbares Kapital. Österreichs Anteil beträgt insgesamt 19,5 Mrd. Euro, von denen aber vorerst nur 2,2 Mrd. eingezahlt werden müssen. Im Vergleich: Am IWF trägt Österreich einen Anteil von 1,82 Mrd. Euro. Der Gouverneursrat des ESM kann die Höhe des Grundkapitals von sich aus ändern. Allerdings kommt dies laut dem Europarechtler Obwexer einer Vertragsänderung gleich. Der österreichische Nationalrat kann jede solche Erhöhung bei der Ratifizierung blockieren.

2 Haben die Mitgliedstaaten ausreichend Mitsprache?

Ja. Der ESM mit Sitz in Luxemburg wird von einem Gouverneursrat geleitet, in dem jedes Teilnehmerland durch ein Regierungsmitglied vertreten ist. Das gewichtete Stimmrecht entspricht dem Anteil des jeweiligen Landes am Grundkapital. Für die Erhöhung des Grundkapitals ist ein „einvernehmlicher“ Beschluss notwendig (keine Gegenstimmen, aber Enthaltungen sind möglich).

3 Darf der ESM auf Gelder der Mitgliedstaaten zugreifen?

Nur sehr eingeschränkt. Das Gerücht, der ESM dürfe ähnlich einem Einziehungsauftrag nach Belieben Gelder absaugen, ist falsch. Er kann nur jene Mittel einfordern, die laut Aufteilung des Grundkapitals zuvor vereinbart wurden.

4 Wird es eine demokratische Kontrolle des ESM geben?

Nein. Im Gegensatz zu anderen EU-Institutionen, wie der EU-Kommission, ist keine parlamentarische Kontrolle vorgesehen. Es gibt auch keinen parlamentarischen Einfluss auf sein Wirken. Der ESM wird mit wenigen Ausnahmen (z. B. EuGH-Zuständigkeit bei Schlichtungsverfahren) in kein vorhandenes System der Gewaltenteilung eingebunden. Seine Tätigkeit ist nicht öffentlich und nicht transparent. Eine Prüfung durch den EU-Rechnungshof ist nicht vorgesehen. Die Rechnungsprüfung erfolgt laut Vertrag durch externe Prüfer, die vom Gouverneursrat beauftragt werden. Obwexer kritisiert: „Offenbar wollte man jede öffentliche, politische Diskussion über das Wirken des ESM verhindern.“

5 Stimmt es, dass der ESM und sein Personal volle Immunität genießen wird?

Ja, der ESM, sein Personal und seine Finanzmittel werden ähnlich wie im Fall des Internationalen Währungsfonds (IWF) volle rechtliche Immunität genießen. Das bedeutet, dass die ESM-Entscheidungsträger und -Mitarbeiter im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit nicht juristisch belangt werden dürfen. Laut Vertragsentwurf darf es auch keine Hausdurchsuchungen im Büro des ESM oder in dessen Archiv geben. Das Eigentum und die Finanzen der Institution sind unangreifbar. Experten aus dem Finanzministerium begründen dies mit der Notwendigkeit, im Fall von Pleiten über die Entschädigung von Gläubigern mitzuentscheiden. Dies könne einen Rattenschwanz an Prozessen zur Folge haben. Auch Obwexer hält die Immunität für „begründet“.

6 Sieht der ESM-Vertrag die Beteiligung privater Gläubiger bei Staatspleiten vor?

Ja. Bei jeder Finanzhilfe an einen Staat muss der ESM entsprechend der Praxis des IWF eine Beteiligung privater Gläubiger (Banken, Versicherungen etc.) prüfen und wenn möglich durchsetzen.

7Darf der ESM marode Staatsanleihen aufkaufen?

Ja, in Ausnahmefällen ist ihm das erlaubt. Bisher hat dies die Europäischen Zentralbank getan. Dieses Vorgehen war aber stets umstritten, weil es die Marktmechanismen außer Kraft setzte.

8 Darf der ESM selbst Finanzmittel veranlagen und Kredite aufnehmen?

Ja. Das Direktorium wird das eingezahlte Grundkapital nach eigenem Ermessen veranlagen. Der ESM wird auch die Möglichkeit haben, Kredite aufzunehmen. Obwexer kritisiert, dass trotz dieser erlaubten Finanzgeschäfte keine Prüfung durch den EU-Rechnungshof vorgesehen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2011)

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