Der Preis, in London zu leben

(c) AP (Angelo Berenguer)
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Überhöhte Preise bei wenig berauschendem Lebensstandard: Das Kräfteverhältnis zwischen Mietern und Vermietern ist in der britischen Hauptstadt in eine Schieflage geraten. Daran ist auch die Politik schuld.

Vor einem guten Monat hat Stuart Wilkinson seine neue Wohnung in Whitechapel bezogen, einer Gegend östlich von Londons Zentrum. Wilkinson gehört der „middle class“ Englands an. Er wohnt allein, hat einen Vollzeitjob als Freiberufler, kam wegen der Arbeit in die britische Hauptstadt. „It's alright“, antwortet er, wenn man ihn nach seiner neuen Bleibe fragt. Begeistert ist er nicht. Er habe ja gewusst, dass der Wohnungsmarkt in London angespannt sei. Aber dennoch: „Nur ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein kleines Bad, eine kleine Küche.“ Und die Kaltmiete beträgt 1300 Pfund im Monat – fast 1500 Euro. „Aber ein Problem ist schon aus der Welt“, lacht Wilkinson: Die gesamte Miete für das kommende Jahr hat er vorab bezahlt. Sonst hätte er die Wohnung auch nicht bekommen.

Dass London zu den teuersten Orten der Welt gehört, ist bekannt. Die Wohnsituation hat sich in den letzten Jahren aber so zugespitzt, dass sie für viele ein Grund zur existenziellen Sorge geworden ist. Wer nicht zu den Haus- oder Wohnungseigentümern zählt, wie rund die Hälfte der Einwohner Londons, ist als Mieter in einer schwachen Position. Für einen geringen Wohnstandard muss viel Geld gezahlt werden, zudem geben die Standardverträge dem Mieter kaum Sicherheit. In London beträgt die durchschnittliche Monatsmiete, exklusive Strom, heuer erstmals über 1000 Pfund (1164 Euro). Die meisten freien Wohnungen bleiben nur wenige Tage auf dem Markt, bis sie wieder vermietet werden. Entspannung ist kaum in Sicht.


Das Recht zu kaufen. Die Lage hat verschiedene Gründe: Wegen der anhaltenden Krise der britischen Wirtschaft war die Nachfrage nach Kaufimmobilien zuletzt schwach. Im Schnitt sind die Preise seit Jahresbeginn dennoch landesweit um 1,7 und in London um 2,3 Prozent gestiegen, weil sich Investoren hier in einem sicheren Hafen wähnen. Menschen auf der Suche nach Unterkunft orientieren sich vermehrt auf dem Mietmarkt, weil ihnen die Kaufkraft fehlt, und treiben dort die Preise. Seit Anfang des Jahres sind Mieten um mehr als sieben Prozent gestiegen. Die erhöhte Vorsicht der Banken, Kredite zu vergeben, hat es für Mieter zusätzlich schwieriger gemacht.

Dazu kommt der notorische Mangel an Wohnraum. Als die konservative Regierung unter Margaret Thatcher 1980 das „Right to buy“ (Recht zu kaufen) einführte, sollte es mehr Menschen ermöglicht werden, ein Eigenheim zu erwerben. Wer eine der zahlreichen Sozialwohnungen mietete, erhielt ein Kaufangebot deutlich unterhalb des Marktpreises. So wurde landesweit ein Viertel der Sozialwohnungen privatisiert, in London rund ein Drittel. Viele Neu-Eigentümer verkauften ihre Wohnungen in einem weiteren Schritt an Unternehmen oder Vermögende weiter. Mit den Einnahmen investierte der Staat allerdings nicht in neue Sozialwohnungen, und so wuchs ein kräftiger privater Mietmarkt heran. Ähnlich wie in Österreich mieten heute 17 Prozent in England auf dem freien Markt, in London ist es ein bis zu doppelt so hoher Anteil. Während in Österreich der Wert fällt, steigt er in Großbritannien.

„Das wäre an sich ja kein Problem“, schnauft Robert Taylor, der für den privaten Mieterverein des Stadtteils Camden arbeitet. „Aber der Markt ist kaum reguliert.“ Die Landlords, wie Vermieter in Großbritannien genannt werden, dürfen beinahe machen, was sie wollen. Preise können völlig frei angesetzt werden, Erhöhungen sind nicht wie etwa in Österreich an den Verbraucherpreisindex gebunden. Bedingungen, die an Mieter gestellt werden, muten bisweilen hanebüchen an. „Wie ist es möglich, dass ein Mieter eine volle Jahresmiete vorstrecken muss?“, fragt sich Taylor empört.

Vielleicht hätte Stuart Wilkinson, der seinen wahren Namen aus Angst vor Konsequenzen nicht in der Zeitung lesen möchte, seine Wohnung auch mit einem geringeren Vorschuss bekommen. Aber dann hätte sein Landlord den Mietvertrag nur für einen entsprechend kürzeren Zeitraum abgeschlossen und danach einen beliebig höheren Preis verlangen oder ihm nach einem halben Jahr mit einer zweimonatigen Frist kündigen können, ohne Begründung. „Wenn ein Mieter unbequem wird, kommt das schon mal vor. Landlords wissen, dass die Menschen sprichwörtlich auf der Straße warten, um einzuziehen.“ Bekannte von Wilkinson erhielten im September nur einen Mietvertrag für neun Monate, weil im Sommer die Olympischen Spiele nach London kommen. Ein Zeitpunkt, zu dem noch wesentlich höhere Mieten verlangt werden können.

Zwar gibt es einige bindende Regeln auch für Vermieter. Zum Beispiel ist ein Landlord für die Instandhaltung der Wohnung und für Reparaturen zuständig. Wirksame öffentliche Stellen, die die Einhaltung überwachen, gibt es aber nicht überall. In Camden etwa wurde erst kürzlich ein Großteil des Personals der zuständigen Behörde gekürzt. Die Sparprogramme der Regierung sind auch hier angekommen. Zudem ist Camden einer von nur zwei der 33 Stadtteile Londons, die überhaupt über einen solchen Mieterverein verfügen. Landesweit gibt es keine Körperschaft, die die Interessen der Mieter auf dem Markt vertritt. Mit seiner Kritik an der Politik muss aber auch Robert Taylor vorsichtig sein, denn das Geld für seine Aktivitäten bekommt er vom Staat. Gerade läuft eine neue Finanzierungsrunde, vielleicht muss er Ende des Jahres schließen.


Wohnen in der Garage. Schon lange beschwert man sich in London über die Mietverhältnisse. Immer wieder kommen Skandale auf: Im September wurde ein Fall publik, in dem Landlords systematisch Garagen und Hütten, ohne Toilette oder Heizung, für 300 Pfund im Monat vermieteten. Der Stadtteil Newham, Schauplatz des Vorfalls, überlegt jetzt als erster in Großbritannien, Lizenzen für Vermieter einzuführen. Die London School of Economics arbeitete jüngst in einer Studie heraus, dass die Entwicklungen auf dem privaten britischen Mietmarkt auch im internationalen Vergleich nicht nachhaltig seien. Aber die Aufmerksamkeit für das Thema ebbte schnell wieder ab. Der britische Housing Minister, Grant Shapps, vertritt seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren die Position, der private Mietmarkt brauche keine zusätzliche Regulierung. „Ich bin zufrieden, dass das derzeitige System die richtige Balance aus Rechten und Pflichten zwischen Mietern und Vermietern hält“, sagte der Tory-Abgeordnete im Juni des Vorjahres.

Stuart Wilkinson und Robert Taylor sehen das anders. Zu ihnen könnten sich spätestens ab dem kommenden Jahr weitere tausende Londoner gesellen. Dann werden Wohnkostenzuschüsse für Niedrigverdiener gekürzt. Robert Taylor und seine Kollegen schätzen, dass 80.000 Londoner ernsthafte Probleme bekommen könnten, ihre Mieten weiter zu zahlen. Ein Appell an diverse Landlords, die Mieten zu senken, sei schon verschickt. „Ob es etwas bringt, wissen wir nicht. Wir sind auf ihren guten Willen angewiesen“, seufzt Taylor.

Wilkinson hat seine Wohnung zumindest für ein Jahr zum derzeit vereinbarten Preis sicher. Die nächsten Monate, in denen er deshalb weniger liquid sein werde, müsse er eben woanders sparen. „Das ist der Preis dafür, in London zu leben.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)

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