Mit Halbwahrheiten am Scheideweg

(c) AP (Ivan Sekretarev)
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Wladimir Putin kann auf einige Erfolge in den vier Jahren an der Regierungsspitze verweisen. Der Umbau der Wirtschaft stellt ihn vor Herausforderungen.

Moskau. Wer in einer Person Symbol zweier Epochen sein will, braucht zumindest rhetorisches Geschick, wenn nicht gar die Fähigkeit zur Persönlichkeitsveränderung. Dass gerade er für eine historische Doppelfunktion geschaffen ist, hat Russlands Premier Wladimir Putin vorige Woche bei seinem Rechenschaftsbericht vor dem Parlament in Erinnerung gerufen. „Die postsowjetische Periode haben wir vollendet“, sagte er mit Rückblick auf zwölf Jahre an der Macht, vier davon als Premier: „Vor uns liegt eine neue Etappe“, in der ein staatliches Gefüge zu errichten sei, das Wohlstand für Jahrzehnte gewährleiste.

Was Putin vier Wochen vor der Inauguration zum Präsidenten in seinem Rechenschaftsbericht darlegte, hat durchaus Hand und Fuß: Russlands Bruttoinlandsprodukt habe wieder das Vorkrisenniveau erreicht, sagte er. Das Wachstum von 4,3 Prozent (2011) sei höher als in vielen Staaten. Die Staatsverschuldung sei so gering wie kaum irgendwo. Die Bevölkerung wachse, Löhne und Pensionen ebenso.

Putin lügt in diesen Punkten nicht. Aber er verschweigt wichtige Fakten und hinterlässt damit – so die Reaktionen russischer Ökonomen – ein unvollständiges Bild. Kein Wort darüber, dass der Bevölkerungszuwachs durch Migranten gedeckt werde, so Igor Nikolajev vom Finanzdienstleister FBK. Kein Wort, dass der Kapitalabfluss seit 2008 338,9 Mrd. Dollar, sprich ein ganzes Jahresbudget, betragen hat, so die Zeitung „Wedomosti“. Dazu komme, dass vor allem die gebildete Bevölkerung auszuwandern begann, weil Unternehmer heftigen Repressionen ausgesetzt sind.

Korruption treibt Preise an

Auch würden laut Kremlchef Dmitri Medwedjew jährlich 25 Mrd. Dollar bei der Vergabe von Staatsaufträgen gestohlen. Die von Putin engagierten Autoren der „Strategie 2020“ beziffern den „Korruptionsaufschlag“ bei Lebensmitteln mit 15 Prozent, bei Immobilien mit 25 bis 30 Prozent.

Putin, so heißt es in vielen Analysen, komme in Widerspruch mit sich selbst, wenn er zur Ankurbelung der niedrigen Investitionen fordert, dass Russland binnen sechs Jahren von Platz 120 im Geschäftsklima-Index „Doing Business“ auf Platz 20 vorrücken müsse: Warum verspreche er Wunder, wenn er das Investitionsklima jahrelang nicht verbessert habe?

Immerhin reagiert Putin verbal auf die Herausforderungen, am technischen Fortschritt anzudocken, den inländischen Finanzmarkt zu stärken und die Wirtschaft zu diversifizieren. Tatsächlich glauben Experten, dass Russlands Weg von einem ölpreisgetriebenen Wachstumsmodell hin zu einem investitionsgetriebenen zäh verlaufen wird, da die Weichen dafür nicht gestellt sind.

Hilft höhere Staatsverschuldung?

Das Wirtschaftsministerium sieht zwei mögliche Szenarien: Bei einem Innovationsszenario, bei dem vermehrt in Bildung und Technologie investiert werde, könne mit einem Wachstum von 4,4 Prozent pro Jahr bis 2030 gerechnet werden, sagte Vizewirtschaftsminister Andrej Klepatsch.

Bleibe man beim konservativen Szenario, also der Dominanz des Rohstoffsektors, sei mit Wachstumsraten von 3,5 bis 3,6 Prozent zu rechnen. „Putin ist besessen von Industrie und Produktion“, kritisiert Dmitri Zaitsev, Partner bei Roland Berger in Russland, gegenüber der „Presse“. Die starke Fokussierung auf diese Bereiche sei eine „fundamentale Fehleinschätzung“, weil das Land als Produktionsstandort mit Staaten wie China nie mithalten könne. Wirkliche Veränderung könnte nur der Aufbau von wissensbasierten Sektoren und Dienstleistungen bringen.

Um die nötigen Investitionen in die Infrastruktur zu stemmen, fordert Zaitsev eine stärkere Staatsverschuldung, zumal die Schuldenquote bei nur neun Prozent der Wirtschaftsleistung liege. „Eine Schuldenquote von 40 Prozent wäre nicht verrückt“, sagt er: Wiewohl es angesichts der hohen Budgetausgaben ein gefährliches Spiel wäre. Das sieht auch Klepatsch so: Maximal 20 bis 25 Prozent dürften es sein, stellte er klar– unabhängig vom Entwicklungsszenario.

Auf einen Blick

Vor seiner Inauguration zum Präsidenten hat Wladimir Putin einen Rechenschaftsbericht vorgelegt, in dem er seine wirtschaftlichen Erfolge der Vergangenheit lobt. Kritiker werfen ihm vor, dass er zu wenig gegen Korruption und die einseitige Ausrichtung der Wirtschaft tue.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2012)

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