Portugal: Generation Grünarbeit

(c) AP (Armando Franca)
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Ein Diplom und keine Chance auf Arbeit – Portugals Jugend wurde von der Schuldenkrise kalt erwischt. Wer nicht emigriert ist, harrt aus und hofft auf bessere Zeiten.

Paula Gil hat seit zwei Monaten einen Arbeitsplatz. „Bei einem großen Unternehmen, wo ich für Kommunikation zuständig bin und den Facebook-Auftritt betreue.“ Womit Gil, eine zierliche Frau mit mikroskopisch kleinem Flinserl im rechten Nasenflügel und einer fein ziselierten Tätowierung am Hals, ihren Lebensunterhalt verdient, ist also kein Geheimnis – wo genau sie ihre Arbeit verrichtet, hingegen schon. Nur so viel: Der Büroturm ihres Arbeitgebers befindet sich in der Innenstadt von Lissabon, unweit des Einkaufszentrums Amoreiras. „Aber ich möchte keinen Staub aufwirbeln, weil sich erst im Sommer herausstellen wird, ob ich bleiben darf.“ Gils Arbeit mag zwar ein verantwortungsvoller Vollzeitjob sein, doch nach außen hin schaut die Sache anders aus. Denn am Papier geht die 28-Jährige keiner geregelten Beschäftigung nach. Paula Gil arbeitet grün.

„Recibo Verde“ nennt sich jenes unscheinbare Formular, nach dem die Arbeitsleben von immer mehr jungen Portugiesen getaktet sind. Im Internet gibt es Foren, die über die Tücken dieser „grünen Quittung“ Auskunft geben, Selbsthilfegruppen für Ratlose und gefilmte Anleitungen auf YouTube – sogar eine Handy-Applikation, die das Ausfüllen der Bögen erleichtern soll, hat sich ein kluger Kopf einfallen lassen.

Ursprünglich wurden die Quittungen eingeführt, um die Nebenerwerbstätigkeit zu vereinfachen: Anwälte, Ärzte oder Architekten sollten es leichter haben, ihre Zusatzeinkünfte zu versteuern. Doch die grünen Honorarnoten entwickelten rasch ein Eigenleben. Was angesichts der Tatsache, dass Portugals Arbeitsmarkt zu den rigidesten der EU zählt, zu erwarten war.

Ticket zweiter Klasse.
Denn anders als die Stammbelegschaft können Grünarbeiter von heute auf morgen gekündigt werden. Sie verdienen im Schnitt weniger, haben keinen Anspruch auf Urlaub, Kranken- oder Arbeitslosengeld. Aus der Perspektive der Firmen sind „Recibos Verdes“ das Sicherheitsventil in einem zu Tode regulierten System, das die Schaffung regulärer Jobs bestraft; für viele Arbeitnehmer sind sie ein Ticket zweiter Klasse in die Armut.

Wie viele Portugiesen grün arbeiten, kann man nur erahnen – das Statistikbüro Pordata bezifferte die Zahl der nicht unbefristet Beschäftigten 2011 mit 850.000, was gut einem Fünftel der arbeitenden Bevölkerung entspricht. Andere Schätzungen gehen von einer Million aus. Ob jene Horrormeldungen, denen zufolge neun von zehn neuen Stellen grün sind, auch zutreffen, lässt sich nicht verifizieren. Klar ist jedenfalls, dass es immer weniger Hochschulabsolventen gelingt, im Berufsleben stabil Fuß zu fassen.

Paula Gil ist in dieser Hinsicht ein Paradebeispiel. Sie studierte Politikwissenschaften in Coimbra, machte ihren Abschluss in Großbritannien und ein Volontariat in Luxemburg – um dann Jahre damit zu verbringen, Tickets zu verkaufen, Geschirr zu spülen oder bei McDonald's Burger zu flippen. Einen Arbeitsvertrag hat Gil in ihrem Berufsleben noch kein einziges Mal gesehen.

Anfang 2011, als die Krise nach Portugal schwappte, platzte Gil endgültig der Kragen. Gemeinsam mit sieben Leidensgenossen gründete sie die „Bewegung des 12. März“ – an jenem Tag riefen die portugiesischen „Indignados“ zu einer Kundgebung in Lissabon auf, und 300.000 Menschen folgten ihrem Ruf. In ihrem Manifest beklagt die (laut Eigendefinition) „verlorene Generation“ ihr Los: „Wir haben keine Gelegenheit unsere Potenziale zu entfalten und zu zeigen, was wir können.“

Der Aufschrei war laut, doch er verhallte ungehört. Die Arbeitslosigkeit setzte ihren Höhenflug fort – ebenso, wie die Zinsen, die Portugal seinen Gläubigern bieten musste. Und die Exponenten der „verlorenen Generation“ dürften in der Zwischenzeit zur Einsicht gelangt sein, dass sie gegen den finanzpolitischen Sturm, der über ihr Land hinwegfegt, wenig ausrichten können. Gil klingt fast resigniert, als sie die letzte Tat ihrer Bewegung beschreibt: eine Petition, mit der das Parlament zu einer Änderung des Arbeitsgesetzes motiviert werden soll. „Wenn das nicht klappt, dann wissen wir wenigstens, dass das Establishment am Fortbestand des Prekariats interessiert ist.“

Himmelfahrtskommando. José da Silva Peneda kann diesem Vorwurf nichts abgewinnen. Was nicht überrascht, denn er ist ein mustergültiger Vertreter jenes Establishments, das Gil an den Pranger stellen möchte. Silva Peneda residiert in einer diskreten Villa im Hafenviertel Belém, die wie der Wohn- und Arbeitsort eines wohlhabenden Zahnarztes aussieht. Von dort leitet er die Geschicke einer kleinen Behörde namens CES, die so etwas ist wie eine auf Bonsai-Format geschrumpfte österreichische Sozialpartnerschaft. Gemeinsam mit Vertretern aus Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften soll sich der ehemalige Sozialminister den Kopf darüber zerbrechen, wie der portugiesische Arbeitsmarkt wieder flott gemacht werden kann. Ein Himmelfahrtskommando, sozusagen.

Geschlagen geben will sich der energische 61-Jährige deswegen aber nicht. Silva Peneda verweist auf die kleinen Erfolge seiner Organisation – etwa, die von ihm angeregte Abschaffung von vier Feiertagen, die 2013 in Kraft tritt –, fordert lautstark mehr Wachstumsimpulse aus Deutschland und eine aktivere EU-Kommission, lobt den Kampfgeist seiner Landsleute und sorgt sich um die portugiesische Wettbewerbsfähigkeit. Zum Schluss zeichnet Portugals oberster Sozialpartner mit seinem Finger ein Quadrat auf die blank polierte Tischplatte und zeigt auf die imaginären Ecken: „Portugal, Europa, Afrika, Brasilien – das ist unser Spielfeld, hier müssen wir bestehen.“

„Job wie Hiob“.
Das Spielfeld von Pedro Job hat ebenfalls vier Ecken. Das ist aber auch schon die einzige Ähnlichkeit mit dem Quadrat von Silva Peneda. Ansonsten geht es bei dem Diplompsychologen deutlich prosaischer zu.

Eck Nummer Eins ist das öffentliche Gesundheitszentrum, wo Job („Job wie Hiob auf Englisch“) arbeitet – natürlich ohne Anstellung; zweites Eck ist die telefonische Aids-Hotline, bei der er aushilft; der dritte Eckpfeiler sind seine privaten Patienten. Vervollständigt wird das Viereck durch eine Ausbildung zum klassischen Psychoanalytiker, die noch eineinhalb Jahre dauern dürfte und so teuer ist, dass sie die Einkünfte aus drei Jobs zur Gänze verschlingt. Ohne seine Freundin käme der 28-Jährige finanziell nicht über die Runden. Dabei arbeitet er im Schnitt 40 bis 50 Stunden pro Woche.

Von seiner Regierung vertreten fühlt er sich nicht – im Gegenteil. „Sie reden von Makroökonomie, dem IWF, dem Sparkurs. Aber wenn ich um mich blicke, sehe ich nur, dass alles schlimmer wird. Ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte“ Sollte sich an diesem Bild nichts ändern, will Job auswandern, sobald seine Zusatzausbildung abgeschlossen ist. Eine durchaus rationale Überlegung, wenn man davon ausgeht, dass der Bedarf an Psychoanalytikern dort hoch ist, wo der Wohlstand breit verteilt ist. „Und ich habe nicht mehr das Gefühl, dass wir in Portugal noch eine Mittelschicht haben.“

60.000 Emigranten.
Hinter den rosafarbenen, durch Feinstaub leicht angegrauten Mauern seiner Residenz bemüht sich Mario Vilalva nach Kräften darum, nicht allzu selbstzufrieden zu wirken, wenn er auf die portugiesische Misere angesprochen wird. Brasiliens Botschafter in Portugal befindet sich in einer delikaten Lage – und zwar nicht nur, weil sich Diplomaten üblicherweise nicht zu den inneren Angelegenheiten ihrer Gastgeberländer äußern sollen, sondern auch, weil Brasilien von der Schuldenkrise profitiert – indirekt zwar, aber doch.

Knapp 60.000 Portugiesen haben ihrem Land im Vorjahr den Rücken gekehrt. Das ist nicht mehr weit entfernt von den Dimensionen der letzten großen Auswanderungswelle der 1960er-Jahre, als pro Jahr 70.000 Menschen emigrierten. Und das lusophone, wirtschaftlich boomende Brasilien ist ein nahe liegender Zielhafen für gut ausgebildete Portugiesen, denen ihr Land keine Perspektiven mehr bietet.

Wie viele von ihnen in Brasilien arbeiten, kann Botschafter Vilalva nicht sagen – die Grenzen zwischen den beiden Ländern sind durchlässig, und nur, wer das ganze bürokratische Prozedere auf sich nimmt, wird von der Botschaft erfasst. Doch der Trend ist eindeutig: Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der offiziellen Anträge seit Jahresbeginn noch weiter gestiegen. Für den Diplomaten ist das nur logisch: „Die EU wird die portugiesischen Probleme nicht lösen können. Portugal muss sich nach neuen Freunden umsehen.“

Apathische Jugend. „Ach, Brasilien. Dort ist es wie im Garten Eden, all die beruflichen Perspektiven ...“ Für Dora Guennes wäre der Sprung über den Atlantik kein großes Wagnis, denn die 29-jährige Philologin hat Verwandte in der ehemaligen Kolonie. Dass sie noch nicht weg ist, hat zwei Gründe: erstens ihr Lebenspartner, und zweitens das Geschäft, das sich die beiden aufgebaut haben. Sie veranstalten Partys im angesagten „Clube Ferroviario“ und können sich so ihr Leben finanzieren – „zumindest in der Theorie“. Bald könnte es ihnen noch besser gehen, denn ihr Freund möchte (mit Unterstützung seiner Eltern) einen Bistro-Kiosk aufmachen. Und Kioske sind in Lissabon momentan stark im Kommen.

Guennes gibt die Schuld an der Krise nicht nur der, ihrer Ansicht nach, ultraliberalen Regierung, sondern auch ihren Altersgenossen. „Sie sind politisch nicht interessiert, gehen nicht wählen.“ So betrachtet, erscheint die Emigration als Weg des geringsten Widerstands. Und wie viele Bekannte der Partyveranstalterin sind schon weg? „Ich schätze 20 bis 25.“

Abwarten und Tabak wuzeln.
Gil, die abgeklärte Aktivistin, will jedenfalls bleiben. „Auswandern sollte man aus freien Stücken. Und nicht, weil man sich dazu gezwungen fühlt.“ Dann lieber ausharren und Fixkosten reduzieren – zum Beispiel, indem man seinen Tabak selbst wuzelt. „In meinem Freundeskreis raucht niemand mehr fertige Zigaretten. Die sind zu teuer.“

Doch mit etwas Glück darf Paula Gil nach dem Sommer ihren Arbeitsplatz behalten. Und sich dann normale Zigaretten leisten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2012)

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