Mit den Parlamentswahlen am Sonntag rutscht Frankreich nach links. Was brachten französische Wirtschaftsrezepte wie die 35-Stunden-Woche?
Mit den gestrigen Parlamentswahlen ist der Linksrutsch in Frankreich wohl perfekt. Nach dem Wahlsieg des Sozialisten François Hollande bei der Präsidentschaftswahl müssen die Konservativen nach zehn Jahren auch ihre Macht im Parlament abgeben. So ist der Weg für die Ideen der französischen Linken frei – auch in Europa. Hollande wird die Trommel für Eurobonds und Wachstumspakt nun noch lauter rühren.
Dass manche Wirtschaftsrezepte aus Frankreich mit Vorsicht zu genießen sind, zeigt etwa ein Blick auf das Vorzeigeprojekt der letzten linken Regierung in Paris: die 35-Stunden-Woche. „Weniger arbeiten für mehr Jobs“, lautete die Parole damals. Arbeiten alle ein wenig kürzer, müssen die vorhandenen Aufgaben auf mehr Schultern verteilt werden, so die Idee bei der Einführung. Eine Dekade und etliche Studien später zeigt sich: Die 35-Stunden-Woche erfüllt ihren Zweck nicht. Das argumentieren zumindest die IWF-Ökonomen Marcello Estevao und Filipa Sá.
Gleiche Arbeit, aber Überstunden
Sie beobachteten bereits 2007 ein bemerkenswertes Phänomen: Obwohl die wöchentliche Arbeitszeit per Gesetz auf 35 Stunden, die kürzeste Arbeitswoche der Industrienationen, gesenkt wurde, änderte sich die tatsächliche Arbeitszeit der Franzosen kaum. Bei Männern gab es de facto keine Veränderungen, nur die Stundenlöhne stiegen stärker an. Frauen (ohne Teilzeit) arbeiteten im Schnitt 25 Minuten kürzer in der Woche als vorher– häuften aber deutlich mehr Überstunden an. Entsprechend gering seien die Auswirkungen auf die Beschäftigung, schließen die Autoren.
Während andere Studien von bis zu 300.000 zusätzlichen Jobs sprechen, finden sie keine Anzeichen dafür, dass mehr Arbeitsplätze generiert wurden. Andere Folgen wirken bis heute nach. So haben etwa die Angestellten des öffentlichen Spitals Hôpital Vaurigard in Paris von 2002 bis 2012 zwei Millionen freie Tage angehäuft.
Gleichzeitig hat die Einführung der 35-Stunden-Woche den Faktor Arbeit drastisch verteuert. Das zeigt ein Vergleich mit dem Nachbarland Deutschland: Zwischen 2001 und 2011 sind die Arbeitskosten in Deutschland um 19,4 Prozent gestiegen, das ist der geringste Anstieg in der EU. In Frankreich sind sie in der selben Zeit um 39,2 Prozent in die Höhe geschnellt, so das Statistische Bundesamt.
Dadurch büßte das Land Wettbewerbsfähigkeit ein, die Exportwirtschaft litt, zeigte eine Studie des arbeitgebernahen Forschungsinstituts COE-Rexecode. Auch die Kaufkraft habe sich negativ entwickelt: Während das BIP pro Kopf in Deutschland zwischen 1999 und 2010 um 13,3 Prozent stieg, schaffte Frankreich in der Zeit nur ein Plus von 7,2 Prozent.
Gesetz wurde 2008 gelockert
Rechnet man alle Krankenstände und Urlaube ein, arbeiten die französischen „Vollzeit“-Beschäftigten laut Studie um sechs Wochen weniger pro Jahr als die Deutschen. Das Institut bezieht sich auf Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat. Demnach arbeiten nur die Finnen effektiv weniger als die Franzosen.
2008 wurde die 35-Stunden-Woche abgeschwächt. Die Wochenarbeitszeit blieb offiziell zwar gleich. In Abstimmung mit den Mitarbeitern können Firmen seither die Arbeitszeit durch Überstunden mit geringeren Sozialabgaben aber wieder erhöhen. Solange die neue Regierung daran nicht rüttelt.
Die meisten Franzosen kennen laut Umfragen die negativen Folgen der 35-Stunden-Woche, wollen sie aber trotzdem nicht aufgeben. Philippe Poutou, Gewerkschafter und chancenloser Präsidentschaftskandidat, geht noch weiter: „Wenn es möglich wäre, gar nicht zu arbeiten, wären wir nicht dagegen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2012)