Lehrstück 2002: Wie man sich selbst umbringt

Wolfgang Schüssel 2002
Wolfgang Schüssel 2002Clemens Fabry
  • Drucken

Vor zehn Jahren explodierte das Kabinett Schüssel I nach Jörg Haiders destruktiver Quertreiberei. Österreich stand in Hochspannung vor den Neuwahlen am 24. November. Schüssels letzter, einziger Sieg.

Wien im Herbst 2002. Vor zehn Jahren ging nach heftigen Krämpfen das schwarz-blaue Kabinett Schüssel I den Bach hinunter. Es kam zu Neuwahlen am 24. November. Die ÖVP triumphierte, wurde erstmals seit 1966 wieder stimmenstärkste Partei. Die FPÖ Jörg Haiders stürzte regelrecht ab. Sie ergatterte nur noch ein Drittel des Stimmenanteils der letzten Wahl 1999. Aber wie kam es dazu?

Der selbstverliebte und allzu erfolgsverwöhnte Hauptdarsteller dieser alpenländischen Posse hieß natürlich Jörg Haider. Er hatte das Katz-und-Maus-Spiel mit seiner ehemaligen Pressesekretärin, der späteren Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer, auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Nie hatte er einkalkuliert, dass ihm die hundertprozentig Loyale, die er ins Vizekanzleramt gehievt hatte, untreu werden könnte und entnervt alles hinschmeißen würde.

Die Chronologie der Ereignisse zeugt von einer fatalen Fehlkalkulation des Kärntner Landeshauptmannes. Gut, die FPÖ verlor in Umfragen an Prozentpunkten, seit sie mitregierte. Die 26,9 Prozent des Jahres 1999 würden nicht mehr erreichbar sein, das schien klar. Aber mit 20–22 Prozent wären die Freiheitlichen eine passable Mitregierungspartei geblieben. Das war Haider zu wenig. Erster wollte er werden, Bundeskanzler. Die kleinen Reformerfolge, die Riess-Passer mit Schüssel erzielte, genügten ihm nicht. Und so nahm das Unheil seinen Lauf.

30. August 2002

In der „ZiB2“ lässt Haider wissen, er ziehe sich endgültig aus der Bundespolitik zurück. Und bekräftigt: „Jetzt bleib ich amal bei meiner Meinung.“ Diesen Entschluss hatte er schon tags zuvor bei einem Abendessen in der Hietzinger Villa seines Freundes Dieter Böhmdorfer deponiert.

31. August 2002

Im Radiointerview klingt der wankelmütige Kärntner aus Oberösterreich schon wieder anders: Sollte die FPÖ bei den nächsten Wahlen (2004) eine Niederlage erleiden, stehe er als „Sisyphus“ bereit, um den Stein wieder nach oben zu rollen. Die Partei liegt in Umfragen bei rund 20 Prozent.

1. September 2002

Die Aktion der Gegner des allzu nachgiebigen freiheitlichen Regierungskurses läuft langsam an: Riess-Passer hat sich dem Verdikt des Koalitionspartners ÖVP gebeugt und die Steuerreform für das Jahr 2003 wegen der Kosten der Hochwasser-Katastrophenhilfe abgeblasen.

Dies soll nun durch einen Sonderparteitag konterkariert werden. Die FP-Spitze soll zu einem Veto gegen einen tschechischen EU-Beitritt vergattert werden. Der Volksanwalt Ewald Stadler kontaktiert die Delegierten beim Parteitag, um ihre Unterschriften zu bekommen, mit denen ein Sonderparteitag verlangt wird. Ein Drittel benötigt er.

Gleichzeitig bricht Jörg Haider öffentlich mit seinem Exliebling Karl-Heinz Grasser: Dem fehle der Draht zum „kleinen Mann“: „Der hat sicherlich sein Leben lang in Wohlstand gelebt [...] Der weiß nicht, wie es Menschen geht, die mit wenig Geld auskommen müssen.“ Zu diesem Zeitpunkt bedient sich Haider großzügig eines persönlichen Spesenkontos für Kleidung und Uhren, das ihm die Partei eingerichtet hat. Grasser kontert cool: Diese Diskussion „im Sous-Parterre“ sei nicht hilfreich.

3. September 2002

Für den Abend hat die Parteichefin den 43-köpfigen Parteivorstand nach Wien einberufen. Sie werde dort die Vertrauensfrage stellen, kündigt sie an. Die Aktionen ihrer Gegner beunruhigten sie nicht, gibt sie sich gelassen. Ob sie bei einem Sonderparteitag zurücktrete? „Warten Sie ab.“

Kurz vor der Sitzung der Eklat: 380 Delegierte (von 751) haben den Sonderparteitag per Unterschrift gefordert – innerhalb von vier Wochen muss er laut Statut stattfinden. Haider: „Ich habe den Sonderparteitag nie gefordert. Wenn das nun die Delegierten tun, so ist das ihr statutarisches Recht, auf das ich keinen Einfluss habe.“

4. September 2002

Die Sitzung dauert bis 6 Uhr morgens. Im legendären Nachtschwärmer-Lokal „Zur Gräfin am Naschmarkt“ feiert Riess-Passer ihren vermeintlichen Sieg. Sie hat ihren Gegnern erstmals wirksam gedroht: Entweder werden die Unterschriften für den Sonderparteitag zurückgezogen – oder sie geht. Mit ihr Finanzminister Grasser, Klubchef Peter Westenthaler, Verteidigungsminister Herbert Scheibner und der Parteiobmann-Stellvertreter Hubert Gorbach aus Vorarlberg.

5. September 2002

Haider greift ein. Für den 7. September lädt er alle Unterschreiber zu einer Sitzung ins steirische Knittelfeld: „Wir sollten nicht das Kriegsbeil ausgraben.“ Einen Sonderparteitag hält er nicht mehr für nötig. Er wolle nur, dass Riess-Passer der „Basis“ zuhöre.

6. September 2002

Der Tag vor Knittelfeld. Bei der Welser Messe droht VP-Bundeskanzler Schüssel erstmals mit Neuwahlen, sollte es zu Rücktritten bei den Freiheitlichen kommen: „Wir fürchten uns nicht davor!“ – In Wien sucht Riess-Passer die Hofburg auf. Abschiedsbesuch bei Klestil? Hilferuf? Man erfährt es nicht. Am Nachmittag verlässt die Vizekanzlerin Wien mit vorerst unbekanntem Ziel.

Sie trifft Haider in der Steiermark zum Abendessen. Letzter Rettungsversuch. Ein Kompromisspapier wird ausgehandelt: Eine „Steuerreformkommission“ soll prüfen, wie weit man Haiders apodiktischem Wunsch nach einer vorgezogenen steuerlichen Entlastung des „kleinen Mannes“ trotz Hochwasserkatastrophe und Mehrausgaben gerecht werden könnte. Haider könnte wenige Meter vor dem Abgrund noch einmal das Steuer herumgerissen haben. Er stimmt der EU-Erweiterung zu, ebenso dem Ankauf von Abfangjägern. Und verspricht, für diesen Text in Knittelfeld werben zu wollen.

7. September 2002

Um 17 Uhr ist das Kulturhaus zu Knittelfeld von Journalisten umlagert. Nur einer kann unerkannt im Saal bleiben. 400 Delegierte sind gekommen, Haider wird umjubelt. Sechs Stunden dauert der Spuk, dann ist das Papier der Parteichefin in der Luft zerrissen. Einer, der Kärntner Kurt Scheuch, tut es auch tatsächlich. Haider hat die Stimmung völlig falsch eingeschätzt. So schließt er sich letztlich der Mehrheit an, ohne Gegenwehr. Die Dynamik hat ihn einfach überrollt.

Riess-Passer verfolgt die Ereignisse fernab in Stoob im Burgenland beim dortigen Landesparteitag per SMS. Das Papier, das ihre Gegner in Knittelfeld ausgearbeitet haben, ist an sich für die Vizekanzlerin machbar – bis auf eines: Haider soll wieder zurück in den Koalitionsausschuss, wieder zurück in die Bundespolitik – so wollen es die „Knittelfelder“.

8. September 2002

Erntedankfest des Bauernbundes auf dem Platz Am Hof in Wien. VP-Chef Schüssel droht erstmals mit Neuwahlen. Am Nachmittag schart Riess-Passer ihre Getreuen in der FP-Bundeszentrale um sich. Nach fünf Stunden treten die Vizekanzlerin, Finanzminister Grasser und Klubchef Westenthaler im Palais Dietrichstein vor die Kameras und Mikrofone. „Wir nehmen den Hut und sagen Adieu“, formuliert Westenthaler. Die vorher so forschen Herren Scheibner und Gorbach haben sich's im allerletzten Moment anders überlegt . . .

Die Koalition ist am Ende. Wolfgang Schüssel hat freie Bahn für Neuwahlen. Und Bundespräsident Klestil, der diese Art von Kooperation zwischen Schüssel und Haider von Anfang an, seit 2000, absolut nicht goutierte, atmet auf.

Herbst 2002

Im Wahlkampf stehen einander der amtierende Kanzler Schüssel und der noch unerprobte SPÖ-Vorsitzende Alfred Gusenbauer gegenüber. Er hat hinter dem Burgtheater eigens aufgestellte Container mit einem „War-Room“, aber man hört von den „Spindoktoren“, „dass das Match gelaufen ist – gegen uns“. Vom neuen FP-Spitzenkandidat Herbert Haupt ist wenig die Rede. Für die Grünen geht Alexander Van der Bellen ins ungleiche Rennen.

24. November 2002

Nationalratswahl, die 22. seit 1945. Der Wähler mischt die Karten völlig neu – und sehr überraschend. Schüssel kann 600.000 frühere Haider-Wähler zu sich herüberziehen. Zuvor ist ihm das schon mit Grasser gelungen: Der „Flachwurzler“ (© Haider) kandidiert jetzt als „Parteifreier“ für die ÖVP. Und die ist plötzlich wieder Nummer eins im Lande: 79 Mandate VP, 69 SP, 18 FP, 17 Grüne.

26. November 2002

Klestil erteilt dem klaren Wahlsieger Schüssel den Auftrag zur Regierungsbildung. Nach endlosen Sondierungsgesprächen mit Rot, Grün, Blau, wieder Grün, nochmals Rot entscheidet sich Schüssel – 96 Tage nach der Wahl – doch wieder für die Blauen als Koalitionspartner. Vizekanzler: Herbert Haupt.

Es sollte Wolfgang Schüssels einziger – und letzter – Wahlerfolg werden. Der Koalitionspartner FPÖ zerbröselt wegen Richtungsstreitigkeiten. Um die enormen Wahlkampfschulden elegant loszuwerden, gründet Haider mit Vertrauten das „Bündnis Zukunft Österreich“. Alle FP-Regierungsmitglieder sind an Bord.

17. April 2005

Beim Gründungsparteitag wird zunächst Jörg Haider zum „Bündnisobmann“ gewählt. Vizekanzler und Infrastrukturminister Hubert Gorbach ist geschäftsführender Parteiobmann, Heike Trammer und Karin Gastinger Obmann-Stv. Zum „Bündnissprecher“ ist Uwe Scheuch bestimmt. Für's Marketing des BZÖ ist in der Startphase zunächst Gernot Rumpold zuständig, dessen Namen man heuer wieder oft zu hören bekommt: Der Staatsanwalt ist schon am Werk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Wolfgang Schüssel mit Thomas Klestil
Zeitreise

Warum explodierte 2002 das Kabinett Schüssel I?

Eine Antwort auf die „Welt bis gestern“ vom 3. November 2012.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.