Russlands Zaren und ihr Appetit auf Land

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Auch nach dem Ende der Sowjetunion blieb Russland ein Vielvölkerreich. Moskaus Herrschaft über weite Gebiete mit nicht russischer Bevölkerung wurde im 16. Jahrhundert begründet. Die imperiale Vergangenheit wirkt bis heute nach.

Etwas Besseres konnte Artjom Loskutow gar nicht passieren: Russlands Behörden nahmen den Protestmarsch ernst, den der Künstler für 17. August im sibirischen Nowosibirsk mitorganisiert hatte – und haben ihn kurzerhand verboten. Das schafft Publizität. Loskutow und seine Mitstreiter hatten eine Föderalisierung propagiert, sprich: mehr Autonomie für Sibirien, mehr (finanzielle) Teilhabe der dortigen, ethnisch stark zergliederten Bevölkerung. So sehr der Kreml Separatismus in der Ukraine fördert, so sehr werden separatistische Bestrebungen im eigenen Land – selbst wenn es womöglich nur eine Kunstaktion war – im Keim erstickt.

Der Nicht-Marsch hat jedenfalls das Ausland an eines erinnert: Auch wenn der Kollaps der Sowjetunion eine Art verspätete Dekolonisierung war, durch die viele Ethnien ihre eigenen Staaten (wieder)errichteten: Russland ist bis heute ein Vielvölkerreich. Und es wächst wieder. Im Zuge der Annexion der Krim kamen heuer auch knapp 300.000 Krimtataren zu Russland. Ihre Begeisterung hält sich in Grenzen, sie hatten vom Kreml nie Gutes zu erwarten. Das gipfelte vor 70 Jahren auf Befehl Stalins in der Deportation aller rund 190.000 Tataren nach Sibirien.

Auch der wiedererwachte russische Appetit auf ukrainisches Territorium lässt sich direkt aus der imperialen Vergangenheit ableiten, inklusive der gerade erst wieder von Präsident Wladimir Putin ventilierten Sichtweise, „Russen und Ukrainer seien doch im Grunde genommen ohnehin ein Volk“.

Sammelleidenschaft. Doch wann begann Russland, ein Vielvölkerreich zu werden, das in seinem Ausmaß andere Reiche dieser Art weit überflügelte und sich gleichermaßen in Europa und Asien ausbreitete? Folgt man dem Historiker Andreas Kappeler, dessen vor 20 Jahren erschienenes Buch „Russland als Vielvölkerreich“ ein Standardwerk zum Thema ist, liegt der Startschuss im Jahr 1552. „Die Bevölkerung des Moskauer Reiches bestand in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Großrussen. Es war stärker russisch und orthodox geprägt als seine Nachfolger, und es war ethnisch und konfessionell erheblich homogener als alle seine Nachbarn“, schreibt Kappeler. Zwar waren im Rahmen des sogenannten „Sammelns der Länder der Rus“ fremde Ethnien unter Moskauer Herrschaft gekommen, doch fiel das erstens zahlenmäßig noch nicht so stark ins Gewicht, und konnte zweitens noch historisch hergeleitet werden.

Mit der Eroberung des Khanats von Kazan – im Oktober 1552 marschierte ein russisches Heer in der gleichnamigen Stadt ein – ging der junge Zar Iwan IV., genannt der Schreckliche, einen entscheidenden Schritt weiter: Das Khanat war ein souveräner Teil des mongolischen Staatensystems, einer der Nachfolgestaaten der sogenannten „Goldenen Horde“, nie jedoch ein Bestandteil der Rus. Im Gegenteil, die Herrscher der Rus waren von der Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts den Mongolen tributpflichtig. Dann drehte sich der Spieß um, nun setzte Moskau die Khane in Kazan ein. Mit der Eroberung des Khanats begann das Zarenreich, nun auch die Länder der „Goldenen Horde“ zu vereinnahmen. Dabei floss viel Blut, wie einer Chronik zu entnehmen ist: „Der Zar ließ die Frauen und kleinen Kinder gefangen nehmen, die Bewaffneten aber ließ er wegen ihres Verrats alle erschlagen.“

Willkommene Rechtfertigung. Zentral ist das Wort Verrat. Es bezog sich auf Unterwerfungseide, die die Khane gegenüber Moskau immer wieder zu leisten hatten. Diese wurden von den beiden Seiten allerdings recht unterschiedlich interpretiert. Während die Khane das als vorübergehenden Bund im Sinn der oft wechselnden Allianzen der „Steppenpolitik“ sahen, war es für den Zaren in Stein gemeißelt. Immer wieder nutzte Moskau daher in den folgenden Jahrhunderten derartige Eide, um das weitere territoriale Ausgreifen zu rechtfertigen.

Dieses Ausgreifen erfolgte in raschen und großen Schritten: Bereits 1556, also nur vier Jahre später, wurde das Khanat Astrachan annektiert, dann wandte man sich den Weiten Sibiriens zu. Im Zug dieser Ostexpansion kamen enorme Gebietsmassen unter russische Herrschaft, oft dünn besiedelt, von einer unglaublichen Vielfalt verschiedener Ethnien zwar, die aber politisch kaum organisiert waren und den Eindringlingen wenig Widerstand entgegenzusetzen hatten. Wenn sich das zaristische Russland einen Happen Land einverleibte, waren die Motive zunächst meist nicht wirtschaftlicher, sondern (sicherheits)politischer Natur.

Pelze, Pelze, Pelze. Im Fall Sibiriens war eine treibende Kraft der Expansion aber zunächst die Wirtschaft, und zwar vor allem eine Familie mit klingendem Namen: die Stroganows, die in Pelzen und Salz machten. Pelze – begehrt war vor allem der Zobel – gab es jenseits des Urals in Asien in Hülle und Fülle. Es war also die Frühform eines Private-Public-Partnership, die den Grundstein für die russische Herrschaft über Sibirien legte. Der Kreml bekam zwar zunächst kalte Füße, nachdem die Siedler in die Defensive geraten waren, doch die Stroganows machten einfach weiter. Der berüchtigte Kosakenführer Jermak sollte es richten, sie stellten ihn 1579 in Dienst, und er zog mit einem angeblich nicht einmal 1000 Mann starken Heer nach Osten. Der Legende nach ertrank er 1584 verwundet in einem Fluss, weil seine Rüstung – ein Geschenk des Zaren – zu schwer war. Da das Territorium im Khanat Sibir nun schon einmal erobert war, legalisierte der Kreml die Sache und ließ es militärisch sichern. Wie Historiker Kappeler schreibt, waren es neben regulären Einheiten auch in den nächsten Jahrzehnten immer wieder Trapper, Abenteurer, Händler und Kosaken, die immer weiter über die sibirischen Flusssysteme nach Osten vordrangen. Doch Land – und Interessen – gab es auch im Westen, der im 18. Jahrhundert vermehrt in den Moskauer Expansionsfokus rückte. 1710 gelang einem russischen Heer die Eroberung von Estland und Livland, die selbstverständlich nur zum Besten für die Besiegten sein sollte: Tallinn (damals Reval) werde seine „Erlösung von dem schwedischen Joch, darunter es lange habe seufzen müssen, gebührend erkennen“, gab sich Zar Peter der Große „persuadiert“. Der Drang nach Westen hatte für den Herrscher, der Russland als europäische Großmacht etablieren wollte, nicht zuletzt einen progressiven Zweck: Aus dem fortschrittlichen Baltikum erhoffte sich Peter wertvolle Impulse für die Modernisierung seines Reiches.
Dazu brauchte er zuvorderst Menschen, und zwar gebildete. Diese Elite macht man sich aber nicht durch Repression gewogen, und so zeigte sich in Estland und Livland prototypisch eine Methode, die Russland in unterschiedlichen Graden meist anwandte, um erworbene Territorien zu sichern: Man tastete die regionalen wirtschaftlichen und sozialen Machtverhältnisse zunächst kaum an. Kooperation mit der einheimischen Elite, wenn möglich auch ihre Aufnahme in den russischen Adel, waren die Methoden der Herrschaftssicherung. Im konkreten Fall ließ man also die estnischen und lettischen Bauern unter der Knute der deutsch-baltischen Oberschicht. Auch konfessionell wurde meist kein Druck ausgeübt, Versuche von Zwangschristianisierungen waren kontraproduktiv.

Weitere Gebiete im Westen kamen durch die drei Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts und durch die Annexion Finnlands 1809 an Russland. Im Fall Kongress-Polens (gebildet nach dem Wiener Kongress 1815) ging der Zar (damals Alexander I.) sogar so weit, dass er einen Eid auf die polnische Verfassung ablegte. Das hatte es zuvor noch nie gegeben. Das Selbstbewusstsein des polnischen Adels, der seine Republik wieder errichten wollte, hat das wohl nicht geschmälert, und im Kreml zog der neue Zar Nikolaus I. die Zügel auch merklich an, der polnische Aufstand von 1830 setzte dem Experiment dann ein Ende.

Sonderfall Ukraine.
Ein Sonderfall ist die Ukraine. Den „Kleinrussen“ wurde nämlich eine eigene Ethnizität weitgehend abgesprochen, die Eingliederung eines Großteils der Ukraine im 17. Jahrhundert wurde bis zur Sowjet-Ära schlicht als „Wiedervereinigung“ interpretiert, auch wenn ukrainische Führer wie Hetman Ivan Mazeppa Anfang des 18. Jahrhunderts das anders sahen und sich immer wieder erhoben.

Mit besonders blutigen Aufständen war der Kreml auch im 19. Jahrhundert im Nordkaukasus konfrontiert, wo Imam Schamil aus Dagestan zu einer legendären Figur wurde, auf die sich auch Extremisten in den beiden Tschetschenien-Kriegen seit 1994 beriefen. Weitere muslimische Ethnien (Usbeken, Kirgisen, Tadschiken, Kasachen, Turkmenen) kamen im 19. Jahrhundert mit dem Ausgreifen Russlands nach Zentralasien unter Moskaus Gewalt.

Betrachtet man die Ausbreitung des Zarenreichs in alle Richtungen über die Jahrhunderte, so kann man sich des Eindrucks eines Expansionsautomatismus nicht erwehren. Erhellend in dem Zusammenhang sind die Worte von Außenminister Alexander Gortschakow 1864, die in dem Fazit gipfeln: Je weiter man ausgreife, desto weiter müsse man ausgreifen, um das Erworbene militärisch zu sichern: Russland, der Drang nach Westen in den USA, Frankreichs Eroberungen in Afrika. „Alle wurden weniger aus Ehrgeiz als aus Notwendigkeit auf diesen Weg der Vorwärtsbewegung gezogen, auf dem es sehr schwierig ist, wieder anzuhalten.“ Im Licht des frisch erwachten Expansionsdrangs unter Putin verheißen diese Worte nichts Gutes.

In Zahlen

Ende 16. Jahrhundert 90 Prozent der Bevölkerung des Reiches sind Russen, der Rest verteilt sich auf andere Ethnien. Der Anteil der Russen ist laut der 1. Revision (einer Art Volkszählung) auf gut 70 Prozent gesunken, bei einer Gesamtbevölkerung von 15,7 Millionen.
1795 Mittlerweile stellen die Russen (bei 37 Millionen Einwohnern) nur noch 53 Prozent der Bevölkerung.
1834 Wie die 8. Revision ergab, ist der Anteil der Russen im Reich mittlerweile unter die 50-Prozent-Schwelle gesunken.

Quelle: Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, München 1993.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2014)

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