Die "Barbaren" und ihr duftender Hafen

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Chinesische Kultur vereint mit westlichen Institutionen: Hongkongs Zukunft ist offen, wie auch die Massenproteste dieser Tage zeigen. Mit dem Opiumkrieg zwischen Briten und Chinesen vor 175 Jahren fing alles an. Beginn und Ende einer Kronkolonie.

Der Gentleman war nicht sehr angetan. „Eine karge Insel mit kaum einem Haus darauf“, schimpfte Außenminister Lord Palmerston über den jüngsten Erwerb des British Empire. Als Soldaten den Union Jack am Morgen des 26. Jänner 1841 im Nordwesten hissten, zählte die subtropische Insel tatsächlich nur 7000 Bewohner – Fischer, Bauern, Piraten. Doch diese künftige Kronkolonie namens Hongkong würde wachsen. Auch nach oben. Atemberaubende Wolkenkratzer werden sich hier in den Himmel schrauben und Palmerstons abfälliges Urteil in einen Treppenwitz der Geschichte verwandeln.

Bis heute umgibt Hongkong, diesen gigantischen Brückenkopf der ostasiatischen Wirtschaft, etwas Mystisches, Undurchschaubares. Chinesische Kultur gepaart mit Glitzer-Kapitalismus, britischer Kolonialgeschichte und Rechtsstaatlichkeit: Hongkong ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang, wie die Massenproteste dieser Tage für freie Wahlen zeigen.

„Ausländischer Schmutz“. Die moderne Geschichte Hongkongs ist eng mit dem südchinesischen Ort Humen verwoben, wo sich in den Junitagen 1839 Seltsames zuträgt: Mehr als 20.000 Kisten bringen sie hierher, den Inhalt werden Soldaten in drei Wochen zerstören und ins Meer hinausspülen. Das alles geschieht unter der Aufsicht des Beamten Lin Zexu, der noch eine Entschuldigung an das Meer richtet, für den „ausländischen Schmutz“, den es aufnehmen muss. Von diesem „Schmutz“ sind viele Chinesen schwer abhängig: Opium, gewonnen aus Schlafmohn in Indien, verschifft von britischen Kaufleuten.

Die Briten „brauchten“ den Drogenhandel. Ihre legalen Tauschwaren interessierten die Chinesen kaum. Zugleich boomte die europäische Nachfrage nach Tee aus China. Das Silber wurde knapp. Also Opium. Nach langem Zögern erzwang China 1839 das Ende des Drogenhandels, indem es die ausländischen Händler in Kanton als Geiseln nahm, bis das Opium herausgerückt wurde. Dieses Kanton (Guangzhou) am Perlfluss war der einzige Hafen, in dem auch streng abgeschotteten Ausländern der Handel erlaubt war.

Nun also treibt das britische Opium im Meer. Und Lin formuliert in anmaßendem Ton einen Brief an Königin Victoria, worin er (in der Sache richtig) ein Ende des Opium-Handels verlangt: „Die Barbaren nutzen den Wohlstand unseres China für ihren Profit“, schreibt Lin. Die „Barbaren“: Das ist die Bezeichnung für Nicht-Chinesen.

Als der Opiumkrieg ausbricht, fühlt sich Kaiser Daoguang mit seinem „Mandat des Himmels“ den Wilden aus dem Westen überlegen. Ein schweres Fehlurteil. Das konfuzianisch auf Harmonie getrimmte Kaiserreich verharrt in seiner technologischen Entwicklung noch im Mittelalter. Das British Empire, Mutterland der Industrialisierung und Heimat der stärksten Flotte des Planeten, ist eine Übermacht.

Obwohl die Briten rasch chinesische Häfen blockieren, macht sich Lin noch über „diese unbedeutende und verachtenswerten Rasse“ lustig. Der Beamte Qishan staunt hingegen über die britischen Dampfschiffe: „Ohne jeden Wind und ohne von den Gezeiten begünstigt zu sein, gleiten sie gegen die Strömung.“

In einem kurzen Friedens-Intermezzo erwirkt Charles Elliott, dass China eine Insel abtritt. Der britische Diplomat ignoriert dabei Befehle aus London und wählt Hongkong. Während London tobt, erkennt der Botaniker Robert Fortune rasch die Vorzüge des natürlichen Tiefseehafens Hongkong: „Überall exzellente Anlegestellen, von den Bergen geschützt, sodass die Schiffe auch bei schwersten Stürmen sicher sind.“ Von hier aus kann England seine (See)-Macht projizieren – auch ins nahe Kanton. Es hat nun wie Portugal (Macao) und die Niederlande (Jakarta) einen Brückenkopf, um seinen Geschäften in Ostasien nachzugehen.

Oberstes Kriegsziel ist ohnehin die Erzwingung eines freien Handels mit China. Im Friedensvertrag von Nanking wird der Kaiser dann auch genötigt, fünf Handelshäfen für Ausländer zu öffne, neben Kanton auch Shanghai, Xiamen, Fuzhou und Ningbo. Und Hongkong wird abgetreten. „Für immer.“

Die Kolonie wächst. Der Dauerbrenner Opium wird hingegen in dem Vertrag nicht erwähnt. Zudem fühlt sich China gedemütigt und boykottiert immer wieder den Freihandel. 1856 bricht der zweite Opiumkrieg aus, an dessen Ende die Engländer nicht nur eine lang ersehnte diplomatische Vertretung in Peking und die Legalisierung des Opiumhandels erzwingen, sondern die Kronkolonie auch um die gegenüber von Hongkong gelegene Halbinsel Kowloon erweitern.

Die Briten sind nun dick im Geschäft. Als die Qing-Dynastie zur Jahrhundertwende taumelt, beschwört London die anderen Mächte Europas, doch Chinas Einheit zu wahren. Doch nicht nur Berlin und St. Petersburg knabbern an den Rändern des Reichs, pachten strategisch wichtige Hafenregionen. Auch die Briten erfüllen ihren Siedlern in Hongkong den Wunsch nach Ausdehnung der übervölkerten Kolonie. Der Pachtvertrag für die „New Territories“ über 99 Jahre vollendet das heutige Hongkong, das übrigens auf Deutsch „duftender Hafen“ bedeutet. Der Legende nach ist der Name den Adlerholzbäumen geschuldet, die in Hongkong verarbeitet werden und deren balsamisch-süßer Geruch von Weitem zu riechen sein soll.

In britischer Hand entwickelt sich Hongkong zu einer prosperierenden Handels- und Industriemetropole, die regelmäßig viel Geld nach London pumpt. Doch dann besetzen zu Weihnachten 1941 die Japaner die Insel. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs liegt sie darnieder. Kurioserweise profitiert die Kronkolonie nun aber vom Bürgerkrieg in China und der kommunistischen Revolution. Hunderttausende Festlandchinesen, darunter viele reiche Unternehmer und Händler, strömen nach Hongkong. Sie fürchten angesichts der Kampagnen des roten Diktators Mao um ihre Existenz. Das spült viele qualifizierte Kräfte in die Stadt – und Geld. Zunächst siedelt sich die Textilindustrie an, in den 1960er und 70er-Jahren entstehen riesige Produktionsstätten für Spielzeug und Elektronik.

Mao schirmt die Volksrepublik inzwischen von der Außenwelt ab. Hongkong ist der einzige Ort, an dem ein wenig Handel zwischen dem chinesischen Festland und dem Rest der Welt stattfindet. Das macht die Stadt zum wichtigen Umschlagplatz. Zugleich steigt sie zum zweitgrößten Finanzzentrum Ostasiens auf. Der Tourismus boomt.

Doch das Ende des „New Territories“-Pachtvertrags rückt näher. Ohne ihn aber ist die Kolonie nicht überlebensfähig. Das weiß auch Margaret Thatcher. Sie will verhandeln. Der Zeitpunkt scheint günstig. Wie viele westliche Regierungschefs geht sie davon aus, dass die Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping aus der Not heraus geboren ist. Die schwache chinesische Führung könnte dazu führen, dass China die New Territories auf Dauer abtritt.

Doch Deng überrascht. Er verlangt 1982 nicht nur die New Territories zurück, sondern gleich die gesamte Kolonie. Rückenwind bekommt er von der UN-Generalversammlung, die schon zehn Jahre zuvor die Verträge von Nanking als unfair, also ungültig, einstufte.

Schlüsselrolle für Volksrepublik. Thatcher findet sich mit dem Verlust ab, ringt aber um einen Sonderstatus für Hongkong. Das ist auch im Sinne Dengs. Längst hat er erkannt, welche Schlüsselrolle der Enklave für die Entwicklung der Volksrepublik zukommt. Hongkong verfügt über all das, was auf dem Festland fehlt: Technologisches Wissen, Unternehmertum, ein internationales Finanzzentrum. Deng entwickelt die „Ein Land, zwei Systeme“-Formel. „Die Hongkonger sollten nach der Rückgabe an China 1997 in Form einer Sonderverwaltungszone ihren bisherigen Status behalten dürfen.“

Die Wahl hatten sie hier ohnehin nie wirklich. Die Briten etablierten zwar ein Rechtssystem. Es herrschte Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit einer freien Presse. Eine Demokratie war Hongkong unter britischer Herrschaft aber nicht. Erst in den Jahren vor der Rückgabe Hongkongs am 1. Juli 1997 lässt der letzte aus London entsandte Gouverneur, Chris Patten, freie Wahlen des Hongkonger Parlaments zu. In einem Vertrag ringt Patten den Chinesen ab, die Bürger in naher Zukunft über ihre Regierung bestimmen zu lassen. Auf diese Zusage berufen sich die Demokratieaktivisten heute.

Eine Ironie der Geschichte: So kapitalistisch die Briten Hongkong führten, schufen sie zugleich eines der umfassendsten sozialen Wohnbauprogramme der Welt. So wahrten sie den sozialen Frieden. Ausgerechnet unter kommunistischer Führung kommt dieser Bereich nun zu kurz. Die Demonstrationen haben auch soziale Wurzeln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2014)

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