Das Lied der Landstraße: Mit dem Rad nach Berlin

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Mit dem Fahrrad nach Berlin: Was verrückt klingt, geht doch, und zwar gar nicht so schlecht. Auch für junge Mädchen ist das eine machbare Reise, wenn auch keine gewöhnliche.

Meine Tochter, knappe vierzehn, hatte einen Sommertraum. Sie wollte mit dem Fahrrad nach Berlin fahren. Eine Fahrt über offene Grenzen, durch Tschechien und die ehemalige DDR: Was könnte besser zum Jahr 2014 passen als diese Reise? Eine Friedensfahrt, 25 Jahre nach dem Mauerfall, wunderbar!

Doch bei näherem Hinsehen stellte sich das Ziel als durchaus fernes dar. Zwischen hier und dort liegen nämlich echte Berge. Die Route ist eine einzige Berg- und Talfahrt, im physischen und psychischen Sinn. Hinunter zur Moldau und wieder hinauf, hinab zu schmächtigen Gerinnen und prächtigen Stauseen, hinauf zu einsamen Pässen, die alle keinen Namen, dafür aber ansehnliche Steigungsprozente aufweisen. In Summe ergab das von Niederösterreich nach Berlin jedenfalls 4800 Höhenmeter.

Die Fahrt war von Anbeginn eine Expedition mit ungewissem Ausgang. Für die Tour inklusive Rückreise stand uns ein Zeitfenster von zehn Tagen zur Verfügung; das ergab, bei einem Rasttag in Prag, einem Bonustag in Berlin und der Rückfahrt mit dem Zug sieben Tage Fahrzeit – eine Tagesleistung von deutlich mehr als hundert Kilometern.

Meine Tochter, das muss noch gesagt werden, ist eine Radfahrerin. Vor drei Jahren schon umrundeten wir den Bodensee. Im Sommer 2013 fuhren wir von Wien nach Vrsar auf Istrien. Wenn ich jetzt schreibe: Über Berge fährt sie besonders gern, klingt das nach einem unerbittlichen Trainervater; die Wahrheit aber ist: Es macht ihr einfach Spaß. Je drängender ich von der Tour warnte, desto dringender wollte sie fahren. Sie ist sonst ein völlig normaler Teenager, wenn Sie wissen, was ich meine.

Wir starteten in Gobelsburg bei Langenlois, siebzig Kilometer westlich von Wien, bei sieben Grad Celsius. Kalte Knie – im Hochsommer. An Berlin dachten wir im Kamptal noch lang nicht. Sondern: Wie können wir Gmünd zum Mittagessen und das böhmische Städtchen Třeboň vor Einbruch der Dunkelheit erreichen?


Eine kleine Panne. Der erste Tag verlief weitgehend nach Plan, aber schon am zweiten Morgen war an eine Weiterfahrt nicht zu denken: Drinnen lag Helene nach einer Durchfallnacht ermattet im Bett, draußen regnete es. Der Vormittag verrann mit Teetrinken, Zwiebackessen, dem Kauf von Regengewand sowie dem Warten auf den Abzug der Regenfront. Um elf sagte Helene: „Geht schon wieder.“ Der Regen hatte auch aufgehört, also spulten wir an diesem denkwürdigen Tag noch 111 Kilometer ab, gekrönt von einer kleinen Panne: Um sechs Uhr abends standen wir nicht wie vorgesehen im angepeilten Milešov, sondern in Kovářov. Wir waren vom avisierten Etappenziel zwanzig Kilometer Richtung Osten abgedriftet. Was aber letztendlich nur ein kleines Problem war, denn: Das Dorfgasthaus hatte geöffnet, die Küche war warm, das Zimmer passabel. Und die Räder durften im Ballsaal nächtigen.

Die schönste Raststation war Prag. Die Stadteinfahrt auf einem neu asphaltierten Radweg entlang der Moldau war eine Vergnügungsreise, die Suche nach dem Hotel (Kopfsteinpflaster, Straßenbahnschienen, Einbahnen) weniger unterhaltsam. Die Stadtausfahrt am übernächsten Tag glich dann einer Rätselrallye. Helene wurde mit jeder Minute ungeduldiger, wollte fahren, fand meine Stopps, mein Stadtplanstudium, meine Fragen an Passanten peinlich. Der Streit entlud sich in einem Schreiduell. Leichte Zweifel blieben freilich auch nach der Cooling-down-Phase: „Papa, bist du dir wirklich sicher, dass wir da richtig sind?“

Sonst gibt es nur Schönes zu erzählen. Die Hotels empfingen uns und unsere Fahrzeuge freundlich. Während Fahrerin und Fahrer in Prag in einem fensterlosen Substandardzimmer nächtigen mussten, ruhten die Räder in der riesigen, frisch renovierten Rezeption. Im Berliner Stadthotel durften wir die Räder sogar ohne Problem mit aufs Zimmer nehmen. Sie hatten es sich verdient.

Helene fuhr mit einem Tourenrad und leichtem Gepäck, ich mit einem etwas schwerer beladenen Crosser. Wobei die Fahrerei selbst oft ziemliches Geschick verlangte. Der Radweg entlang der Elbe präsentierte sich in Tschechien abschnittsweise als Feldweg, in Sachsen als von Baumwurzeln aufgebrochene Holperbahn. Wir schwenkten also, wo immer möglich, von diesen Buckelpisten auf den glatten Belag der Landstraße um. Irgendwo in der brandenburgischen Einsamkeit hupte ein roter VW-Golf, sonst wichen alle Autos ohne Murren aus, bremsten, schalteten herunter, blieben in Kurven geduldig hinter uns.


Legenden aus der Vergangenheit. So viel Landschaft. So viel Landleben. Böhmische Dörfer, sächsische Kleinstädte, Baumalleen, Kiefernwälder, Hügel, Felder. Und immer wieder Seen, Bäche, Teiche, Kanäle. Die Moldau. Die Elbe. Die sächsische Schweiz. Nach Übervölkerung schaut es nirgendwo entlang der Strecke aus, auch nicht nach Überindustrialisierung. Dass die Grenzen, die früher Eiserne Vorhänge waren, heute ohne jede Passkontrolle passiert werden dürfen, ist auch nach 25 Jahren noch Grund zur Freude. Allerdings nur für den Vater. Für die Tochter klingen die Erzählungen von Visaanträgen, stundenlangen Grenzkontrollen, Wachtürmen, Stacheldrahtverhauen und gelegentlichen Verhaftungen wie Legenden aus einer irrealen Vergangenheit.

Dass unsere Körper ununterbrochen Unmengen von Nahrung verlangt haben, liegt auf der Hand. Salz- und Schokokekse, Wurstsemmeln und Müsliriegel, Bananen und Mannerschnitten: Wir stopften in uns hinein, was das Supermarktregal so hergab. Zum Gelingen einer solchen Reise braucht es aber auch Glück. Unser Glück war, dass wir nur zweimal vor kurzen Regengüssen flüchten mussten. Und nur an einem einzigen Vormittag strammen Gegenwind hatten. Als wir dann durch Bratwurst und Krautsalat wieder aufgerichtet ins Freie traten, hatte der Wind gedreht; ja, er schob alsbald kräftig an. Was auch nötig war, um die Hundertdreißig-Kilometer-Etappe erfolgreich zu beenden. Die Sonne stand dann schon ziemlich tief, als wir in der Herberge am See im weltabgeschiedenen Weiler Körba einliefen.

Nur noch ein Tag, Berlin schon zum Greifen nah. Aber nun klagte Helene über Schmerzen im Knie. Sie hinkte, quälte sich die Treppen hinauf, fiel todmüde aufs Bett. Abbruch, so kurz vorm Ziel? Ich verordnete kalte Umschläge und verabreichte Voltaren. Sollte ich sie im Fall des Falles ziehen? Oder besser schieben? Am strahlend blauen Morgen waren die Schmerzen verflogen. Alles klar. Aufbruch zum Gipfelsturm.

Das Finale war grandios. Über kleine Land- und erste Satellitenstädtchen erreichten wir kurz nach Mittag ein gelb strahlendes Schild, auf dem „Berlin“ stand. Kurze Umarmung, kurze Selfie-Orgie, danach konzentrierte dreizehn Kilometer kerzengerade, immer tiefer in die Stadt hinein, immer auf guten Radwegen. Jetzt waren wir wirklich da. Rollten stolz über die Straße Unter den Linden, mitten durch das Brandenburger Tor, vorbei am Reichstag und schließlich die allerletzten Meter hinüber zum Hotel am Bahnhof. Ende! Schluss! 763 Kilometer in den Beinen, kein Sturz und keine existenzielle Krise: Den Gipfelsieg nimmt uns keiner mehr weg.

Gefeiert haben wir unseren Zieleinlauf mit einem Eisbecher und am nächsten Tag mit Kakao und Kuchen, ganz oben auf dem Berliner Fernsehturm. Wo mir Helene ohne viel Umschweife mitgeteilte, dass sie von der Reise doch etwas enttäuscht war. Weil sie gern noch ein Stück weiter gefahren wäre. Nach Hamburg zum Beispiel. Ich habe keine Ahnung, woher sie ihre Energie nimmt, ich habe auch keine Ahnung, wohin unsere nächste Reise geht. Aber es könnte, so vermute ich, wieder eine Radtour werden.

Steckbrief

Othmar Pruckner ist Redakteur im Wirtschaftsmagazin „Trend“ und Reisebuchautor. Sein Reiseführer „Das Waldviertel“ erschien soeben in vierter, neu überarbeiteter Auflage.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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