Im Niemandsland am Rand Österreichs

Kleinhaugsdorf
Kleinhaugsdorf(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Vor 25 Jahren war hier quasi das Ende der Welt. Und zum Teil sind die Grenzorte im Osten Österreichs nach wie vor Niemandsland. Ost-Tristesse, fast verklärte Erinnerung an ein Zusammenwachsen der Nationen oder Natur, in der die Zeit steht.

Wenn du da hinübergehst“, so habe der Opa damals bei den Sonntagsausflügen gewarnt, „dann erschießen sie dich“, erzählt der Reisebegleiter. Und man kennt sie zu Dutzenden, die Schauergeschichten von damals. Von der Grenze als unüberwindbarem Wall, dahinter das Fremde, die Gefahr. Von damals, als hier, in Kleinhaugsdorf, ganz oben im Weinviertel, die westliche Welt zu Ende war. Heute ist das ein gottverlassenes Örtchen, hier schießt niemand mehr. Oder bloß mit den billigen, in Österreich verbotenen Feuerwerkskörpern, die knapp hinter der Grenze verkauft werden.

Die Grenze ist heute schneller passiert als erwartet. Zu spät erst fällt auf, ah, da war sie ja schon. Das alte Gebäude steht noch, der Balken ist längst weg. Nur zwei tschechische Beamte in einem Polizeiauto, das blaue Schild mit dem Sternenkreis und die vielen Hinweistafeln erinnern, dass man hier einen anderen Staaten betritt. Vielleicht ist es auch der Schreck über die Skurrilitäten am Wegesrand, der die Grenze unbemerkt überfahren lässt. Man wähnt sich im Nirgendwo, als mannshohe Elefanten aus Plastik, ein lebensgroßer Eisbär, der Männchen macht, eine Armada aus weiteren Tieren und Abscheulichkeiten aus Plastik, von Elvis-Büsten bis zu Buddhas, auftauchen. Chinesische Verkäufer schützen sich hinten, im Verkaufszelt, vor dem kalten Wind, Kunden sind keine in Sicht. Trotz der offenen Grenzen hat dieser Ort noch etwas vom tristen Ende der Welt. Hinter dem Parkplatz voll Plastik der chinesischen Händler weist ein riesiges Plakat mit 15 nackten Frauen auf ein Bordell hin, das mit billigsten Pauschaltarifen wirbt, dahinter blinkt die Excalibur City. Die offene Grenze? „Ja, ja, freilich ist das gut. Prinzipiell natürlich und auch für Haugsdorf“, sagt Johann Bauer, der Bürgermeister der Weinviertler Gemeinde. Der Ort habe aber nicht wahnsinnig davon profitiert. Noch immer schrumpft die 1500-Einwohner-Gemeinde. „Die Jungen gehen weg, sie sind gut ausgebildet und gehen zum Arbeiten nach Wien“, erzählt Bauer die Geschichte von den Alten, die zurückbleiben, die so viele seiner Amtskollegen aus dem nördlichen Weinviertel oder dem Waldviertel erzählen können. In Haugsdorf fehlen Jobs, auch der fehlende Bahnanschluss sei am Abwandern mitschuld, sagt Bauer, obwohl die Infrastruktur zum Leben – Schulen, Banken, Geschäfte – ja da sei. Mehr als jeder dritte Einwohner, sagt er, sei über 60. Nur langsam gelinge es wieder, neue Jobs zu schaffen.

Nüchtern nach dem Aufbruch. Nach der Grenzöffnung war das anders, da waren die Erwartungen, die Aufbruchstimmung groß. Und es ist auch etwas entstanden im alten Niemandsland an der tschechischen Grenze. 2000 Jobs auf 200.000 Quadratmetern – eine wild blinkende und lärmende Kunststadt ein paar hundert Meter hinter der Grenze – die Excalibur-City. Outlet-Center, vier Casinos, Tierklinik, Kosmetiker, ein Themenpark, eine Weltkugel, ein Flugzeugrestaurant. Oder der meterhohe, feuerspeiende Drache samt dem irgendwie mittelalterlichen Gedudel, das einen schon auf dem Parkplatz ungläubig zurücklässt. Die sonderbare City wurde schon in den frühen 1990er-Jahren von Ronald Seunig mit Duty-Free-Shops an der tschechischen Grenze begründet. Dort, wo wenige Jahre zuvor noch die Soldaten der damaligen ČSSR patroullierten. Diesseits der Grenze hat die Shopping- und Unterhaltungskunststadt in den rund 20 Jahren seit dem ersten Shop wirtschaftlich aber nichts gebracht.


Busreisen ins blinkende Niemandsland. Die Busreisenden fahren an Haugsdorf vorbei, über die tschechische Grenze. Essen billig, gehen zur Kosmetikerin mit den günstigeren Preisen als diesseits der Grenze, kaufen ein. Vielleicht bei einem der Chinesen im Asia Basar, die dort streng riechende Ledertaschen mit den Emblemen teurer Marken verkaufen. Auch die Haugsdorfer, so erzählt Bürgermeister Johann Bauer, fahren „hinüber“ zum Essen. Jobs sind für die Haugsdorfer keine entstanden, das Lohngefälle sei an der Grenze noch deutlich zu spüren. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Grenze im Kopf wohl noch existiere. Tschechisch spricht diesseits der Grenze kaum jemand, erzählt Bauer. Deutsch auf der anderen Seite der Grenze sehr wohl, das sei wirtschaftlich interessanter.

Das Lebensgefühl, das habe sich in den 25 Jahren, seit gleich hinter Haugsdorf die Grenze zu war, aber wohl geändert. „Ja, sicher ist das jetzt anders“, sagt Bauer. Anders, da man frei in Richtung Norden fahren kann, ohne zu wissen, dass dahinter der berüchtigte Todesstreifen zwischen Österreich und der damaligen ČSSR verlaufen ist, in dem hunderte Flüchtlinge und Soldaten zu Tode gekommen sein dürften.

Heute aber, sagt er, seien die alten Geschichten, die sich hinter der Grenze zugetragen haben, kaum mehr ein Thema. Das alte, verfallende Zollgebäude dürfte auch nicht mehr ewig als Relikt aus der Zeit, in der dort noch kontrolliert wurde, so stehen bleiben. Es wurde im August um 82.000 Euro an eine Privatperson verkauft.


Bald sind die Grenzen ganz weg. Seit die Kontrollstationen durch die Öffnung überflüssig wurden, arbeitet die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) sukzessive entlang der Grenze daran, die verfallenden Gebäude zu verkaufen. Seit 2012 werden auch überflüssig gewordene Schranken, Dächer, Kioske, Rampen oder Überkopfwegweiser abgebaut und verkauft. In Deutschkreutz, Rattersdorf-Liebing, Klingenbach, Grametten, Drosendorf, Laa, Lavamünd oder Leifling etwa ist der Verkauf schon abgeschlossen. Die übrigen Grenzstationen sollen noch heuer, spätestens aber nächstes Jahr verkauft werden, so Ernst Eichinger von der BIG. Noch zu verkaufen sind etwa die Grenzen Minihof-Liebau, Heiligenkreuz, Nickelsdorf, Nagelberg, Drasenhofen oder Berg. Was bleibt, sind die weißen Grenzsteine, die sich über Wiesen und durch den Wald ziehen. Einer stets in Sichtweite des anderen. Ein X in der Mitte, ein Ö und ein C zeigen die Seite, auf der man steht, zwei Striche die Richtung, in der man den nächsten findet.

Nördlich von Mitterretzbach, am äußersten Rand des Weinviertels, in einer Gegend, in der einem das eine oder andere Auto, weit und breit aber keine Menschenseele begegnet, verläuft die Grenze quer durch den Wald, ein gottverlassenes Idyll, das nur die weißen Steine durchbrechen. Dann läuft sie direkt entlang der Straße. „Achtung Staatsgrenze“ steht auf dem Schild. Beim kindlichen Spiel, links der Fuß in Tschechien, rechts der Fuß in Österreich, wird der Gedanke, dieser totenstille Herbstwald hat vor Kurzem zwei ganze Welten getrennt, surreal. Vergessen ist die Geschichte aber auch in Mitterretzbach nicht. Im Sommer wurde beim Heiligen Stein, dem Naturdenkmal weniger hundert Meter von der Grenze entfernt, die Wanderausstellung „Achtung Staatsgrenze“ gezeigt.


Panzersperren im Naturparadies. Auch ein paar Kilometer nördlich davon, in Hardegg, fand im Sommer ein Brückenfest statt, um an die alte Grenze und an die Zeit vor 25 Jahren, als kurz die Weltgeschichte im nördlichen Weinviertel haltmachte, zu erinnern. Noch immer hängen die Tafeln und Fotos einer Outdoor-Ausstellung am Brückengeländer. Die Grenzbrücke Hardegg, erbaut 1874, wurde erst 1990 wiedereröffnet. Das steht auf einer Tafel, vor der sich heute die tschechischen Wanderer fotografieren lassen, die hier, unterhalb der Burg und vor dem alten Hotel, ihre Herbsttouren durch den Nationalpark Thayatal starten. Eine Tschechin etwa, die ihrem Sohn im Volksschulalter von den Tafeln entlang der Brücke vorliest, was sich hier zurzeit des Eisernen Vorhanges zugetragen hat.

In der Zeit, in der der Nationalismus Europa gespaltet hat. In Hardegg wurde der Übergang über die Thaya 1938 durch einen schweren Schranken versperrt, auf der tschechischen Seite des Flusses standen schwere Panzersperren, schließlich wurde damals über die Thaya geschossen. Nach 1945 wurde die Brücke geschlossen, auf tschechischer Seite wurden die Bretter entfernt, das Überschreiten war nun nicht mehr – oder nur noch durch gefährliche Kletteraktionen auf den Traversen – möglich. Auch die Reformen 1968 brachten keine Veränderung in Hardegg oder an der Brücke. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten kamen aber einige Flüchtlinge über die Thaya nach Österreich.

Am 26. Dezember 1989 kommt die Samtene Revolution schließlich auch hierher, noch vor der offiziellen Grenzöffnung kamen die Bewohner von beiden Seiten zur Brücke. Ein Bild auf der neu gestrichenen Brücke zeigt heute, wie die Nachbarn über die damals rostigen Eisentraversen balancieren, in eine Kamera winken, eine Fahne schwenken. Ein anderes Bild zeigt, wie sich Nachbarn, die in unmittelbarer Nähe wohnten, aber nie miteinander zu tun hatten, durch den Stacheldraht des Grenzzaunes die Hände geben.


„Nichts bewegt mehr als Versöhnung.“ Jahrzehnte war die Brücke ein Symbol der Teilung: bis zur Mitte der Thaya, auf Hardegger Seite, gestrichen, der Belag hätte befahren werden können. Hätte er nicht auf halbem Weg auf rostigen Traversen geendet. Nach 1989 wurde der Belag ganz abgetragen. Das „Symbol für die abgebrochenen Beziehungen“ verschwand. Am 15. April 1990, dem Ostersonntag, war es dann so weit, „vor der Brücke in Hardegg, kaum fähig zu begreifen, welche Stimmung sich hier unseren Augen bot“, beschreibt Herwig Brauneis im Buch „Die Türme von Znaim – Skizzen aus dem Weinviertler Grenzland“, was sich damals zwischen Menschenmassen und Blasmusik bei der Eröffnungsfeier abspielte. „Als wir (...) die Brücke betraten und auf den frischen, festen Lärchenpfosten über das dunkle Wasser schritten, ging mir das Herz auf. Meine Augen brannten und mit fielen Jean Pauls Worte ein: „Nichts bewegt den Menschen mehr als der Anblick der Versöhnung“.

Heute ist das Geschichte. Geschichte zum Angreifen mit den alten metallenen Grenzbalken, die noch da sind, mit dem alten Zollhaus auf tschechischer Seite, vor dem einst schwere Panzersperren am Ufer aufgestellt waren, und das für die Kinder der Wanderer heute ein Spielplatz ist. Die auf einen Mauervorsprung klettern, durch die Gitterstäbe ins Innere schauen.


Romantik mit Chuck Norris. Brücken als Symbole der Trennung – und der Erinnerung heute. Eine solche steht auch rund 140 Kilometer weiter südöstlich bei Schlosshof, an der Grenze zur Slowakei. Die „Fahrradbrücke zur Freiheit“ (es ist die Brücke über die March, die kurz berühmt wurde, weil sie, einem Online-Voting nach, nach Chuck Morris hätte benannt werden sollen), die nach Devínska Nová Ves, einem Stadtteil von Bratislava führt. Eben noch in Schloss Hof, sieht man auf der anderen Seite der March schon die Hochhäuser Bratislavas. Die ursprüngliche Holzbrücke, die dort stand, wurde 1880 durch Eisstöße zerstört.

132 Jahre lang konnte man die March zwischen Schlosshof und Devinska Novà Ves nicht überqueren. Als sie 2012 eröffnet wurde, war viel von Begegnung, von einem Zusammenwachsen die Rede. Heute ist es ein schmaler, schnell übersehener schwarzer Streifen, quer über den grünen Belag der Brücke, der von der Grenze blieb. Diesseits ein Ö, jenseits ein S. Davor hängen Dutzende Schlösser am Brückengeländer. Mit Namen, Herzen Liebesschwüren. Ob grenzüberschreitende Liebschaften darunter sind?


Grenzerfahrung wie eh und je. Weiter im Süden, in Nickelsdorf, ist Grenze wieder das, was Grenze immer war: Die vertrauten Häuschen zwischen den Fahrbahnen, in denen einst Kontrollore saßen, die Autobahn, die sich in viele Bahnen auffächert, auf denen im Stau zu stehen früher im Sommer zur Urlaubs-Folklore zählte. Heute verfallen die Häuschen, nur Lkw müssen sich noch einreihen und zur Kontrolle anstellen. Die übliche Grenz-Tristesse prägt das Bild: ein Laufhaus, ein billiges Hotel, verfallende Häuser, eingeschlagene Scheiben.

Hört man Nickelsdorf, klingen – wie bei Kleinhaugsdorf – fast noch die Radio-Staumeldungen in den Ohren. Es sind Orte, untrennbar mit der Grenze verbunden. Auch heute. Obwohl es heute, statt der Bilder von Trabis und den jubelnden Menschen, die vor 25 Jahren den Grenzübergang passiert haben, Meldungen von Schleppern, Flüchtlingen und Schwerpunktaktionen der Polizei sind, die man mit Nickelsdorf assoziiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.