Historikerin: „Russland manipuliert die Gulag-Opferzahlen“

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Putin lässt Schulbücher neu schreiben und Gedenkorganisationen bedrohen, erzählt die niederländische Historikerin Nanci Adler. Sie spricht am Dienstag in Wien bei der Tagung über europäische Erinnerungskonflikte.

Die Presse: Gibt es heute so etwas wie eine Gulag-Gedenkkultur in Russland?

Nanci Adler: Bemühungen gibt es heute nur aufseiten von NGOs, und die erreichen die Masse nicht. Das offizielle nationale Gedenken rehabilitiert die Sowjet-Vergangenheit, streicht sogar die angeblichen Errungenschaften des Stalinismus hervor.


Wie äußert sich das in Bezug auf die Gulag-Vergangenheit derzeit konkret?

Es wird zum Beispiel an einem neuen staatlichen Schulbuch über die russische Geschichte gearbeitet. Der Auftrag dafür ging an den Verlag Prosveshchenie, „Aufklärung“, der in der Sowjet-Ära das Schulbuch-Monopol hatte. Dessen neuer Leiter, Arkady R. Rotenberg, gehört zum inneren Zirkel Putins. Davor gab es pro forma einen Wettbewerb, und viele Stimmen in der Zivilgesellschaft sagten, man solle ihn boykottieren, denn Historiker hätten auch einer Art hippokratischem Eid zu folgen, nämlich die Wahrheit zu sagen. Das Putin-Regime dagegen will ein einheitliches Narrativ. Auch Arbeitsbücher für Lehrer wurden manipuliert, die Lehrer sollen beim Thema Stalin die Industrialisierung und Ausmerzung des Analphabetismus hervorstreichen, bei den Opferzahlen sollen sie nur die Zahl der Exekutierten nennen und die verschweigen, die zum Beispiel an Schwäche und Hunger starben.


Die 1988 von Andrei Sacharow gegründete Organisation Memorial kämpft trotz aller Schwierigkeiten gegen die Verdrängung der Vergangenheit und auch gegen heutige Menschenrechtsverletzungen in Russland. Wie ergeht es ihr gegenwärtig?

Voriges Jahr im März gab es eine Razzia bei Memorial in Moskau, ich war an dem Tag dort. Der Grund war das neue Agentengesetz, demzufolge sich Organisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ registrieren müssen, was Memorial verweigert hat. Heuer wurde gedroht, den Memorial-Sitz in Moskau wegen bürokratischer Verstöße zu schließen. Die Behörden haben Memorial zwar noch Zeit gegeben, diesen angeblichen Verstoß zu beheben, aber trotzdem – es sind Schikanen, um die Arbeit zu behindern.


In Perm im nördlichen Ural befindet sich die einzige Gulag-Gedenkstätte. Dort hat man aus dem unter Stalin eingerichteten und 1987 geschlossenen Hochsicherheitslager ein Museum gemacht. Ist dieses Museum heute ebenfalls gefährdet?

Heuer haben die Behörden dort schon Strom und Wasser abgedreht und einen Wachturm niedergerissen. Außerdem wurde eine Fernsehdokumentation darüber gedreht, in der keine Überlebenden, nur Ex- Wachleute zu Wort kamen. Die sagten, dort seien nur Verräter eingesperrt gewesen.


Sie sind seit Jahrzehnten auf die Aufarbeitung der Gulag-Vergangenheit spezialisiert: Ist die Verdrängung heute größer als vor zehn oder 20 Jahren?

Vor zehn Jahren war es besser, vor 20 noch viel besser. Ich habe meine Forschungen in den späten 1980er-Jahren begonnen, gemeinsam mit der Organisation Memorial unter Gorbatschow. Da gab es große Bewegungen in Richtung Öffnung, Gorbatschow sagte, es sei gut zu forschen. Manche kritisierten, die Öffnung sei nicht weitreichend genug, man muss aber auch sehen, dass noch mehr Öffnung sehr destabilisierend hätte wirken können. Auf jeden Fall war diese Zeit ein Höhepunkt im Umgang mit Gulag-Verbrechen.


Wie haben Sie damals geforscht? Haben Sie mit Zeitzeugen gesprochen, bekamen Sie Zugang zu den Archiven?

Mitte der Neunzigerjahre hatte ich Kontakt zu sehr vielen Überlebenden der Gulags und war eine der wenigen, die Zugang zu den Archiven bekam. Zehn Jahre später gab es schon fast keine Überlebenden mehr. Und die Archive sind heute nicht annähernd so zugänglich wie vor 20 Jahren, als ich dort forschte. Es wurden auch schon russische Wissenschaftler wegen ihrer Forschungen inhaftiert, unter dem Vorwand, dass sie die Privatsphäre der Opfer verletzen.


Sie engagieren sich für eine transnationale Erinnerungskultur, die die Verbrechen des Kommunismus genauso aufarbeitet wie die der Nazi-Zeit. Ist Russland das größte Hindernis dafür?

Ja, in Russland gab es nie eine Truth Commision wie in Südafrika, keine Nürnberger Prozesse, keine Prozesse wie in den Ländern des früheren Jugoslawien. Russland ist einzigartig, dort ist nichts passiert. Nicht einmal die Opfer werden gehört. Und selbst wenn, würde es nicht genügen, man muss auch die Täter identifizieren, Verbrechen Verbrechen nennen – und das werden sie nicht tun. Das wird erst passieren, wenn Russland von innen heraus ein demokratisches Ethos entwickelt und eine Regierung hat, die die Menschenrechte nicht abwertet.

ErinnerungsTagung in Wien

Nanci Adler vom Holocaust- und Genozid-Forschungszentrum Niod in Amsterdam spricht heute bei der Tagung über europäische Erinnerungskonflikte der Akademie der Wissenschaften. Ab 9 Uhr, Hauptgebäude, Sitzungssaal (1. Stock). Infos zur Tagung auf oeaw.ac.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2014)

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