Massaker von Katyn: "Sogar die Hunde wichen vor uns zurück"

Eine rote Rose auf einem Katyn-Gedenkstein.
Eine rote Rose auf einem Katyn-Gedenkstein.(c) Reuters (Peter Andrews)
  • Drucken

Zwischen 3. April und 19. Mai 1940 ermordet die sowjetische Geheimpolizei mehr als 4300 polnische Offiziere in einem Waldstück bei dem russischen Dorf Katyn. Was folgt ist eine jahrzehntelange Propagandaschlacht.

Als die deutsche Wehrmacht 1943 in einem Waldstück nahe des russischen Ortes Katyn ein Massengrab entdeckt, wittert NS-Propagandaminister Joseph Goebbels seine Chance, um einen Keil zwischen die alliierten Kriegsgegner USA, Großbritannien und Sowjetunion treiben. Doch Stalins Propagandaabteilung schlägt zurück. Von einem Massenmord und seiner propagandistischen Ausschlachtung.

Rund einen Monat vor dem Massaker von Katyn unterzeichnet das sowjetische Politbüro unter Diktator Josef Stalin am 5. März 1940 einen Befehl (Beschlussprotokoll Nr. 13/144) zur Exekution von "Nationalisten und konterrevolutionären Aktivisten" in den besetzten Gebieten Polens, in dessen Folge nicht nur 4300 Offiziere in Katyn, sondern insgesamt bis zu 25.000 polnische Intellektuelle, Polizisten und Offiziere ermordet werden. Lawrentij Berija, der sowjetische Volkskommissar des Inneren, hat eine Liste mit 25.700 politischen Gefangenen vorgelegt. "Jeder von ihnen wartet nur auf die Freilassung, um die Möglichkeit zu bekommen, sich aktiv am Kampf gegen die Sowjetmacht zu beteiligen", schreibt Berija. Seine Empfehlung ist eindeutig: "Die Anwendung des höchsten Strafmaßes - Erschießung!"

300 Hinrichtungen pro Nacht und Henker

Anfang April 1940 werden dann tausende Gefangene des Gefangenenlagers Koselsk mit Güterzügen nach Katyn, Kalinin oder Charkow transportiert. Alle Hinrichtungen erfolgen durch Schüsse in den Hinterkopf. Die Erschießungen führen aus Moskau angereiste Henker durch, wie Thomas Urban in seinem Buch "Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens" schreibt. Die Polen werden in eine Todeszelle geführt, in der ein Henker hinter der Tür wartet und sofort abdrückt. Es sind Hinrichtungen im Minutentakt.

Der Ablauf der Hinrichtungen ist am Beispiel von NKWD-Major Wassili Blochin dokumentiert, der allerdings in Kalinin im Akkord tötete. Ähnlich müssen aber auch die Tötungen in Katyn durchgeführt worden sein. Ein Zeuge beschreibt das so: "Blochin zog seine Spezialkleidung an: eine braune Lederkappe, eine lange braune Lederschürze, braune Lederhandschuhe mit Stulpen bis über die Ellbogen. Auf mich machte dies einen gewaltigen Eindruck - vor mir stand ein Henker!" Blochin tötet wegen deren Zuverlässigkeit mit deutschen Walther-Pistolen. Er wechselt in einer Schicht die Waffen mehrmals, weil sie zu heiß werden. Anfangs erschießt Blochin pro Nacht 300 Mann, ehe er auf 250 reduziert.

"Tranken Wodka bis zur Besinnungslosigkeit"

Blochin hat zwei Baggerführer aus Moskau mitgebracht. Sie heben 25 Massengräber aus und decken diese im Schichtdienst wieder zu. Katyn wird auch deshalb für die Massengräber ausgewählt, weil hier Feriensiedlungen für NKWD-Offiziere liegen, zu denen Außenstehende keinen Zutritt haben. Die Geheimpolizisten selbst sind natürlich zum absoluten Schweigen verpflichtet.

Die einfachen NKWD-Soldaten, die die Leichen abtransportieren müssen, versorgt Blochin mit Wodka. Ein NKWD-Soldat gesteht Jahrzehnte nach der Tat: "Natürlich haben wir Wodka bis zur Besinnungslosigkeit getrunken. Die Arbeit war schließlich nicht die einfachste. Wir waren so müde, dass wir uns kaum auf den Beinen hielten. Und wir wuschen uns mit Parfüm. Bis zum Gürtel. Anders konnte man den Geruch von Blut und Verwesung nicht loswerden. Sogar die Hunde wichen vor uns zurück. Und wenn sie uns anbellten, dann von Weitem."

Goebbels wittert seine Chance

Ein Jahr nach dem Massaker wird die Gegend rund um Katyn von der Deutschen Wehrmacht erobert. Schließlich erfahren die Deutschen von Einheimischen von Gerüchten über Massenerschießungen im Wald. Auch tauchen immer wieder von Wölfen ausgebuddelte Menschenknochen auf. Als der deutsche Regimentskommandeur Oberstleutnant Friedrich Ahrens Grabungsarbeiten veranlasst, entdeckt man hunderte Leichen in polnischen Uniformen. Die Indizien scheinen klar: Die Jahresringe von auf den Gräbern angepflanzten Kiefern deuten auf das Jahr 1940 hin, zudem werden Leichen mit Winterbekleidung gefunden (die Deutschen marschierten im Juni 1941 ein). Auch gefundene Banknoten und Briefe sprechen eine eindeutige Sprache in Richtung sowjetischer Täterschaft.

NS-Propagandaminister Joseph Goebbels wittert einen PR-Coup, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und vor allem um einen Keil zwischen die alliierten Kriegsgegner USA, Großbritannien und Sowjetunion zu treiben. In der "Deutschen Wochenschau" heißt es: "Hier hauchten über 12.000 polnische Offiziere ihr Leben aus. In mehreren Gruben von 16 mal 20 Metern wurden die Leichen in Zwölfer-Lagen aufgefunden. Wenige Spatenstiche genügen und schon werden übereinander gestapelt wie Tuchballen die Stiefel toter Soldaten sichtbar. Dann werden grauenvoll entstellte Körper und Köpfe freigelegt: ermordete Offiziere. Es sind Angehörige aller Dienstgrade der ehemaligen polnischen Armee. Sie wurden seit Jahren von der polnischen Bevölkerung vermisst..."

Ein deutsches Propaganda-Eigentor

Die sowjetische Führung kontert anfänglich eher unbeholfen damit, dass es sich um archäologische Umgrabungen des "Grabes von Gnesdowaja" handeln müsse. Aber dann schlägt die sowjetische Propagandaabteilung zurück und bezichtigt die Deutschen des Massenmordes. Als die polnische Exilregierung in London unbequeme Fragen stellt und am 17. April 1943 das Internationale Rote Kreuz bittet, eine Abordnung nach Katyn zu schicken, bricht Stalin die diplomatischen Beziehungen zu den Exil-Polen ab.

Der Unterstaatssekretär im US-Außenministerium erklärt dem polnischen Botschafter in Washington: "Ich kann nicht verstehen, daß sich die polnische Regierung an das Internationale Kreuz gewandt hat, um eine Beschuldigung untersuchen zu lassen, die von der deutschen Propagandamaschine erhoben wird." Tatsächlich fürchten die Alliierten natürlich, dass Goebbels ihre Koalition sprengen will. Zudem sind die zwei beweisführenden deutschen Gerichtsmediziner wenig glaubwürdig: Der eine ist SS-Standartenführer, der andere sitzt dem nationalsozialistischen Ärzteverband vor. Auf Druck der USA und Großbritanniens zieht Polen schließlich am 30. April den Antrag an das Rote Kreuz wieder zurück. Nach 1945 wird der Massenmord von Katyn dem besiegten Deutschland angelastet, bei den Nürnberger Prozessen bezieht sich sogar ein Anklagepunkt auf Katyn.

Erst Gorbatschow gesteht sowjetische Schuld

Erst 1952 sieht ein US-Untersuchungsausschuss die sowjetische Täterschaft als erwiesen an. "Der Spiegel" zitiert damals Oberstleutnant H. van Vliet, einen Hauptzeugen des Ausschusses: "Ich glaube vielmehr, daß die Russen das Massaker veranstaltet haben". Vliet war mit anderen kriegsgefangenen alliierten Soldaten unter deutscher Bewachung nach Katyn gebracht worden. "Ich haßte die Deutschen und sträubte mich, ihnen zu glauben. Aber schließlich mußte ich doch auf Grund von dem, was ich sah, zugeben, daß sie die Wahrheit sagten."

Die sowjetische Geschichtslüge wird aber noch Jahrzehnte aufrecht erhalten: Erst im April 1990 gesteht Michail Gorbatschow die sowjetische Schuld ein. Die russisch-polnischen Beziehungen sind von Katyn aber noch heute belastet. Zwar trafen vor fünf Jahren die damaligen Ministerpräsidenten von Russland und Polen, Wladimir Putin und Donald Tusk zum 70. Jahrestag des Massenmordes in Katyn zusammen. Doch seitdem hat sich nichts getan. "75 Jahre nach dem Mord an polnischen Kriegsgefangenen schützt der heutige Staat Russland die Täter", sagt Slawomir Debski, Direktor des Zentrums für polnisch-russischen Dialog und Verständigung.

Anmerkung der Redaktion
Unter Berufung auf unsere Forenregeln wurde die Kommentarfunktion zu diesem Artikel deaktiviert.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.