April 1945: „Was, der alte Gauner lebt noch?“, fragte Stalin

(c) ORF (Archiv Hugo Portisch)
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Während die Schlacht um Wien noch nicht einmal begonnen hat, bietet sich Karl Renner der Roten Armee an. Dem ehemaligen Staatskanzler gelingt es, Josef Stalin mit Schmeicheleien in die Irre zu führen. Er bildet eine Regierung.

Am 4. April 1945 meldet sich ein würdiger alter vollbärtiger Herr im Sonntagsanzug beim Kommando der 103. Gardeschützendivision der Roten Armee, die tags zuvor den niederösterreichischen Ort Gloggnitz erobert hat. Der 74-Jährige stellt sich als Doktor Karl Renner vor, der hier im Ort unbehelligt den Weltkrieg überdauert hat. Er sei bereit, mit Billigung der sowjetischen Befreier neuerlich eine provisorische österreichische Staatsregierung zu bilden, wie er das schon 1918 getan hatte.

„Was, der alte Gauner lebt noch?“, soll Josef Stalin in Moskau ausgerufen haben, als ihn das Telegramm seines Truppenführers erreichte. Verbürgt ist dies freilich nicht. Sicher ist hingegen, dass Stalin sofort zugreift, weil er den Schmeicheleien des alten Fuchses Karl Renner erliegt: Während noch die Schlacht um Wien tobt, sollten klare Fakten geschaffen werden, bevor die Westmächte in der Bundeshauptstadt sind: Eine vorläufige Regierung mit dem alten Sozialdemokraten Renner als willfähriger Marionette der Sowjets – das war Stalins Plan.

Ein schwerer politischer Fehler des Kreml-Diktators. Denn der doppelzüngige Renner handelt so schnell, dass die aus Moskau eilends eingeflogenen österreichischen Kommunisten zu spät kommen. Ihre geplante Machtübernahme ist vereitelt.

„. . . Nach längerem Ringen entschloss ich mich, alle Risken auf mich zu nehmen, um möglicherweise doch Österreich die Chance zu geben, die verhängnisvolle Bindung an Hitler-Deutschland selbst zu zerreißen“, schreibt Renner in seinen Erinnerungen. „Andererseits war mir klar bewusst, dass ich niemals als Beauftragter Russlands die Mission übernehmen und durchführen konnte. Der Auftrag musste von Österreich selbst kommen.“ (Siehe auch Manfried Rauchensteiner im „Spectrum“ vom 21. März).

Die Sowjets weisen dem alten Staatsmann zunächst Schloss Eichbüchl bei Wr. Neustadt zu, wo er für den Korpskommissar Alexej S. Scheltow seine Vorschläge für eine Regierungsbildung zu Papier bringen soll. Als er es aber ablehnt, einen Appell an die Rote Armee zu richten, fürchtet er, dass ihm die Befreier und neuen Freunde den Auftrag für die Regierungsbildung wieder wegnehmen könnten.

Also schreibt er mit der Hand wie gestochen dem „hochverehrten Genossen Stalin“. Dieser Brief weist zwar peinliche Schmeicheleien auf, enthält aber keine von der Sowjetunion erwartete Zusage bezüglich der Bildung einer Volksfront mit der KPÖ. Das Schreiben wird im Kreml zwar mit Skepsis aufgenommen, aber Stalin, der Renner ja aus seiner Wiener Zeit 1913 flüchtig kennt, befiehlt seinen russischen Kommandanten in Österreich, den „Genossen“ mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Renner ist da längst schon einen Schritt weiter. Er weiß, er braucht die Zustimmung der westlichen Alliierten und eine Beteiligung der früheren Christlichsozialen, die sich gerade als ÖVP neu formieren.

Erst am 12. Mai antwortet der Sowjetdiktator endlich mit einem Telegramm („Streng geheim! – kopieren verboten!“) an die 3. Ukrainische Front, Marschall Tolbuchin:
„Seiner Exzellenz, dem Staatskanzler Österreichs, Herrn K. Renner.

Ich danke Ihnen, sehr geehrter Genosse, für Ihr Schreiben vom 15. April. Sie können sicher sein, dass Ihre Sorge um die Unabhängigkeit, Gänzlichkeit und das Wohlergehen Österreichs auch meine Sorge ist.

Ich bin bereit, jede Hilfe, die für Österreich notwendig sein kann, Ihnen nach Kraft und Möglichkeit zu erweisen.
Ich entschuldige mich für die späte Antwort. J. Stalin“
Der Wiederaufbau der staatlichen Ordnung kann beginnen. Dazu braucht Renner aber beide Parteien.

DAS KRIEGSENDE IN WIEN

5. April 1945
Die Rote Armee erreicht den westlichen Stadtrand von Wien („Westumfassung“). Damit ist die Bundeshauptstadt eingeschlossen.


6. April
Der sowjetische Angriff auf Wien beginnt – Straßen- und Häuserkämpfe in Favoriten und Simmering.
In Wien wird der „Nero“-Befehl „Wien, rechts der Donau“ ausgegeben – es ist dies der Befehl, alle kriegswichtigen Anlagen und Einrichtungen rechts des Donaukanals zu zerstören.


7. April
Hunderte deutsche Soldaten setzen sich in Wien von ihren Einheiten ab, sie werden von der Zivilbevölkerung mit Kleidung versorgt und versteckt. Widerstandskämpfer hissen auf dem Wiener Rathaus die rot-weiß-rote Fahne.


8. April
Räumung des Kriegsgefangenenlagers Krems-Gneixendorf. Mehrere tausend Kriegsgefangene ziehen in langen Kolonnen nach Westen.


9. April
Deutsche Truppen räumen die Innenstadt von Wien, ziehen sich hinter den Donaukanal zurück und sprengen die Brücken.


10. April
Die Rote Armee erreicht den Donaukanal.


11. April
Sowjetische Truppen setzen über den Donaukanal – Befehl Nummer eins des sowjetischen Militärkommandanten von Wien, „zwecks Aufrechterhaltung des normalen Lebens und der Ordnung“.


12. April
Durch Funkenflug, den Plünderer in den Häusern am Stephansplatz angerichtet haben, gerät der mittelalterliche hölzerne Dachstuhl des Doms, der bis dahin größte Europas, in Brand. Die Pummerin stürzt ab und zerschellt.


13. April.
Die Schlacht um Wien ist beendet.
Doch das sinnlose Morden geht noch weiter: Im Zuchthaus Krems-Stein wird der Direktor wegen Wehrkraftzersetzung standrechtrechtlich hingerichtet (siehe „Spectrum“ vom 28. März), in
St. Pölten 13 Mitglieder einer Widerstandsgruppe.

In Göstling wird das Barackenlager, in dem 76 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter – Männer, Frauen und Kinder – untergebracht sind, von einer Waffen SS-Einheit in Brand gesteckt.

In Großraming werden nicht marschfähige ungarische Zwangsarbeiter in die Enns geworfen.

Nächsten Samstag:
Renner überredet Kunschak zum Mitmachen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2015)

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