Erster Giftgaseinsatz: ''Feinde vergiften wie Ratten''

Verwundete nach einem Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg
Verwundete nach einem Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg (c) imago
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Am 22. April 1915 lassen deutsche Truppen in Nordbelgien Chlorgas aus Stahlflaschen. Eine gelbliche Wolke zieht auf, senkt sich über die feindlichen Stellungen und tötet 3000 Männer.

Im April 1915 stehen sich an der Westfront in Flandern deutsche und französische Truppen im Stellungskrieg gegenüber. Seit Monaten kann die Entente die belgische Stadt Ypern verteidigen. Geht es nach den Deutschen, soll das am 22. April anders werden: Gegen Abend kommt ein Nordostwind auf, um 18 Uhr gibt General Berthold Deimling den Befehl, 6000 im Boden eingegrabene Stahlflaschen zu öffnen. Aus ihnen entweichen 150 Tonnen Chlor in die Luft, vermengen sich zu einer sechs Kilometer breiten und bis zu 900 Meter tiefen gelblichen Wolke und sinken in die alliierten Gräben und Stellungen ab.

Die Gesichter der Franzosen laufen rot an, die Männer beginnen zu husten, taumeln, erblinden. Rund 3000 Soldaten ersticken, weitere 7000 überleben schwer verätzt. Doch der militärische Durchbruch bleibt aus: Ohne Gasmasken können auch die Deutschen nur wenige Kilometer vorrücken.

Selbstversuch im Chlornebel

Fritz Haber, 1918
Fritz Haber, 1918(c) Wikipedia

Die Entdeckung, dass sich Chlorgas als strategische Waffe einsetzen lässt, geht auf den deutschen Chemiker Fritz Haber zurück. Der Professor für Elektrochemie der Technischen Hochschule Karlsruhe ist seit jeher vom Militär fasziniert. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, meldet er sich umgehend als Freiwilliger, wird wissenschaftlicher Berater im Kriegsministerium. Seine wesentliche Aufgabe ist die Herstellung von Explosivstoffen, auch sucht er nach Möglichkeiten, Ammoniak mithilfe von Luftstickstoff herzustellen („Haber-Bosch-Verfahren“), wofür er 1919 den Nobelpreis erhält.

Als im September 1914 im Westen der Stellungskrieg einsetzt, ergeht die Order, Granaten diverse Reizstoffe beizumengen, um die erstarrenden Fronten zu durchbrechen. Die Versuche bleiben unspektakulär, bis Haber die Idee hat, mit Chlorgas zu experimentieren. Nach etlichen Tests – unter anderem holt er die späteren Nobelpreisträger James Franck, Otto Hahn und Gustav Hertz in sein Team – wagen Hager und Oberst Max Bauer am 2. April 1915 einen Selbstversuch: Sie lassen Gas aus Flaschen und reiten mit Pferden direkt hinein. Später notiert Haber: „Im Augenblick hatten wir in dem Chlornebel die Orientierung verloren, ein wahnsinniger Husten setzte ein, die Kehle war wie zugeschnürt. (…) in höchster Not lichtete sich die Wolke und wir waren gerettet.“

Fortan nützt der Chemiker seine Kontakte zur Industrie, lässt das Gas vom Chemiekonzern BASF in großen Mengen produzieren – in der später gegründeten Konzerngemeinschaft IG-Farben wird Haber Aufsichtsrat; eine Tochtergesellschaft davon wird im Zweiten Weltkrieg das Gas Zyklon B herstellen, durch das in den Vernichtungslagern Millionen von Menschen sterben.

Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg
Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg(c) imago

Das Giftgasprojekt ist nicht unumstritten. „Ich muss gestehen, dass die Aufgabe, die Feinde vergiften zu sollen wie die Ratten, mir innerlich gegen den Strich ging“, schreibt der Kommandierende General des VI. Armeekorps, Bertold von Deimling, später in seinen Memoiren. Die Aussicht, Ypern einzunehmen, stimmte ihn aber um: „Vor solch hohem Ziel mussten alle Bedenken schweigen.“ So folgt am 22. April der Kampfeinsatz, dem auch Haber beiwohnt. Anschließend kehrt er nach Berlin zurück, lässt sich bei einem Empfang am 1. Mai feiern. Dort treffen auch Habers Frau, die Chemikerin Carla Immerwahr, und seine Geliebte Charlotte Nathan aufeinander. Noch in der Nacht nimmt sich Immerwahr das Leben – ob wegen der Konfrontation mit Nathan oder des Gasangriffs (stets hatte sie versucht, Haber davon abzubringen) ist unklar.

Haber scheint von ihrem Tod ungerührt: Am 2. Mai reist er an die russische Front, lässt den 13-jährigen Sohn allein zurück. Sein Selbstbild zeichnet er 1933 so: „Ich war einer der mächtigsten Männer in Deutschland. Ich war mehr als ein großer Heerführer, mehr als ein Industriekapitän.“ Lange kann sich der „Vater das Gaskrieges“ der Erfolge seiner Massenvernichtungswaffe aber nicht erfreuen: Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigriert der Jude 1933 nach England. Wenige Monate später stirbt er in einem Hotel in Basel.

45 Chemikalien in einem Krieg

Der „Tag von Ypern“ bleibt nicht der einzige Giftgasangriff im Ersten Weltkrieg, Chlorgas nicht der einzige Kampfstoff: Bis 1918 setzen die Kriegsteilnehmer 18 verschiedene, potenziell tödliche Chemikalien sowie 27 weitere, lediglich reizende ein. Ab 1917 werden die Gifte kombiniert verwendet („Buntschießen“).

Nach Schätzungen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts werden zwischen 1914 und 1918 rund 20 Millionen Gasgranaten verschossen, mehr als 10.000 Tonnen chemische Kampfstoffe aus Flaschen gelassen. Die Folge: rund 91.000 Tote und 1,2 Millionen Verletzte. Erst 1925 untersagt das Genfer Protokoll ausdrücklich die Anwendung von Giftgasen und bakteriologischen Mitteln im Krieg und gegen Zivilisten – weiter geforscht wird trotzdem. 1997 folgt die Internationale Chemiewaffenkonvention, die die Entwicklung, Herstellung, den Besitz, die Weitergabe und den Einsatz chemischer Waffen verbietet. Mit Stand vom Dezember 2013 haben 190 Staaten das Übereinkommen ratifiziert.

Auf Giftgase zurückgegriffen wird dennoch: Erst am 16. März soll im syrischen Bürgerkrieg Chlorgas eingesetzt worden sein. Ein im UN-Sicherheitsrate in New York gezeigtes Video zeigt Kinder in der Stadt Sarmin, die vergebens nach Luft schnappen. Auch 2014 soll es laut OPCW „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ Chlorgasangriffe auf drei Dörfer in Syrien gegeben haben. 

Giftgas im Ersten Weltkrieg

Die Briten arbeiteten schon vor 1915 an „Stinkbomben“, die Franzosen setzten im Jänner 1915 mit einem Tränengas (Bromessigsäureethylester) gefüllte Gewehrpatronen ein - beide Waffen erzielten aber keinen Erfolg. Der Chlorgas-Einsatz der Deutschen gilt deswegen als erster „richtiger“ Giftgasangriff der Geschichte.

Chlorgas ist ein hoch toxisches, chemisches Abfallprodukt. Wird es eingeatmet, greift es Atemwege und Lunge an, zersetzt Gewebe, reizt Schleimhäute, führt zu Atemnot und dem Tod. Gaspatronen, die Chlorgas beinhalten, wurden mit einem grünen Kreuz markiert (ebenso wie solche mit Phosgen, Diphosgen und Chlorpikrin), weshalb sich bald die Bezeichnung „Grünkreuz“ durchsetzte. „Blaukreuz“ bezeichnet Stoffe der Clark-Gruppe (Diphenylarsenchlorid) und gilt als „Maskenbrecher“. Eingesetzt erstmals im Juli 1917 durchdrang es die Atemschutzfilter der Schutzmasken und reizte Nase und Rachen so stark, dass sich die Soldaten die Masken vom Kopf rissen. Ebenfalls verwendet wurde Senfgas („Gelbkreuz“), das bei Hautkontakt zur Bildung schmerzhafter Blasen und großflächiger Verbrennungen führt; eingeatmet greift es die Bronchien an, in den Augen führt es zum Erblinden.

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