Bauernbund und CV als Figls Basis

OEVP-PARTEIVORSTANDSSITZUNG IM HERBST 1945
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Vor fünfzig Jahren, am 9. Mai 1965, starb der erste Bundeskanzler der Zweiten Republik Österreich. Der Mann hatte alles, was nach 1945 nottat.

Meinem lieben Poldl Gottes Segen und der Mutter Segen. Alles Gute, Deine Mutter.“ Im Gästebuch der Familie Figl hat diese Eintragung vom 21. Dezember 1945 in Kurrentschrift eine besondere Bedeutung. Am Vormittag jenes Tages hatte der Bauernsohn aus Rust im Tullnerfeld, der Agraringenieur Leopold Figl, als erster frei gewählter Bundeskanzler der Republik Österreich dem Hohen Haus seine Regierungserklärung vorgetragen. Die Witwe Josefa Figl wohnte diesem feierlichen Akt in der Ehrenloge des Nationalrats bei.

Danach saß die Familie noch lang beisammen. Für Josefa Figl, die neun Kinder aufgezogen hatte, war dies wohl der stolzeste Tag ihres Lebens. Den Triumph ihres Buben, die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags am 15. Mai 1955, sollte sie nicht mehr erleben. Eine Woche davor ist sie 81-jährig gestorben.

Fünf dicke Gästebücher hüten die Nachkommen des legendären Bundeskanzlers, Außenministers, Parteiobmannes, Nationalratspräsidenten und niederösterreichischen Landeshauptmannes. Die Historikerin Birgit Mosser-Schuöcker hat sie ausgewertet und konnte dabei auf die Erklärungen der Figl-Tochter Anneliese bauen, die selbst die unleserlichsten Eintragungen mit schlafwandlerischer Sicherheit entziffern kann.

Ein reiches Leben in Buchform. Schon vor dem Krieg hatte der Bauernführer Figl seine Freunde in der Bauernstube am elterlichen Hof versammelt, den der Bruder Josef bis zu seinem Tod führte. Auch die Bundesbrüder aus dem Cartellverband waren dabei. Er gehörte seit dem Bodenkulturstudium der CV-Verbindung „Norica“ an. Und nach den brutalen KZ-Aufenthalten, zunächst in Dachau, später in Mauthausen, ging es erst recht mit Volldampf los. Helmut Wohnout hat dieses Start-up in seiner neuen Figl-Biografie eindrucksvoll beschrieben („Die Welt bis gestern“ vom 18. April).

Ingenieur Julius Raab, der den Jugendfreund zwischen dessen beiden Verhaftungen pro forma in seiner Baugesellschaft angestellt hatte, notierte am 29. Jänner 1944 ins Gästebuch:

„Bald wird wieder das Frühjahr sein.
Dann gehört die Heimat wieder mein.
Dann bauen wir sie auf zu neuem Leben.
Mag es auch viel Arbeit und Mühe geben.
Sie konnten uns nicht brechen und beugen.
Die Welt wird es einmal müssen bezeugen.
Österreich ist, wird sein, wird bestehen.
Und aller Dreck wird untergehen.

Raab. Julius. Der Chef.“

Schon am 13. und 14. April 1945 – die Rote Armee hatte soeben Wien erobert, erkor Figl das heil gebliebene Gebäude des Bauernbundes in der Wiener Innenstadt (Schenkenstraße 2) als sein Hauptquartier. Weitere alte Mitarbeiter stießen zu ihm, etwa Eduard Hartmann, der spätere Landwirtschaftsminister. Sie hissten einfach eine rot-weiß-rote Fahne und daneben die grüne Fahne des Bauernbundes. Neben dem Tor verkündete ein handschriftliches Dokument in Deutsch und Russisch, dass hier für die Sicherung der Ernährung der österreichischen Bevölkerung gearbeitet werde.

Aber wer kam überhaupt auf die Idee, diesem noch nicht 43 Jahre alten KZ-Überlebenden die ganze Verantwortung zu übertragen, was sich als ungeahnter Glücksgriff erweisen sollte? Offensichtlich hatten die Sowjets Figl als den gesuchten, in Wien anwesenden und daher für sie greifbaren Repräsentanten der Bauernschaft identifiziert, der zur Mithilfe bei der Lebensmittelversorgung herangezogen werden sollte. Figl galt als Agrarexperte, der noch von früher her hohe Wertschätzung bei den Bauern genoss.

Von wem der Hinweis auf den dynamischen Bauernbunddirektor vor 1938 wirklich kam, lässt sich nicht mehr definitiv klären. Er könnte den Sowjets von Vertretern der Widerstandsgruppe O5 oder von der österreichischen KP gegeben worden sein, vermutet der Historiker Ernst Bruckmüller. Jedenfalls berichtete Figl, dass bei seinem Zusammentreffen mit Marschall Tolbuchin am 12. April auch der österreichische Kommunistenchef Johann Koplenig dabei gewesen sei.

Ernst Fischer wiederum, der gemeinsam mit Koplenig wenige Tage zuvor aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war, erinnerte sich, dass Koplenig bei seiner ersten Begegnung mit Figl von dessen Persönlichkeit beeindruckt gewesen sei. Er habe „einen jungen Bauernführer, die Verkörperung einer neuen progressiven Generation der Katholiken, kennengelernt. Mit diesem ebenso temperamentvollen wie neuen Ideen zugänglichen Mann sei eine gute Zusammenarbeit zu erwarten.“

Binnen weniger Wochen schulterte der eher schmächtige Kettenraucher so gut wie alle verantwortungsvollen Lasten: inoffizieller Parteiobmann, Staatssekretär in der provisorischen Staatsregierung Renner, wenig später auch noch Landeshauptmann von Niederösterreich, ab Dezember dann Bundeskanzler.

Welchen außertourlichen Belastungen der Mann ausgesetzt war, zeigt eine Episode, die sich am 30. Juli 1945 um halb sechs Uhr abends abspielte. Figl erhielt die telefonische Mitteilung: An der östlichsten Grenze zur Tschechoslowakei, bei Berg und Wolfsthal nahe Pressburg, hatten die Tschechen schwerst verwundete deutsche Kriegsgefangene ohne medizinische Versorgung unmittelbar entlang der Staatsgrenze auf österreichischem Staatsgebiet ausgesetzt. Von Lastwagen abgeladen, wurden die Verwundeten sich selbst überlassen.

Figl alarmierte den (kommunistischen) Staatssekretär für Inneres, Honner, und den sowjetischen Stadtkommandanten von Hainburg. Anschließend ließ er alles liegen und stehen und fuhr sofort an die Grenze. Das Bild, das sich ihm bot, war erschütternd. In Wolfsthal hatte der Schlossherr Graf Anton Walterskirchen die rund dreißig Schwerverletzten, darunter frisch Amputierte mit nur notdürftigen Verbänden, in sein Schloss bringen lassen, wo sie erstbehandelt wurden. Dazu kam die dramatische Versorgungssituation, waren doch in Wolfsthal zu den 800 Einwohnern erst kurz davor ohnedies nochmals 800 Flüchtlinge gekommen.

Bei Berg wiederum befanden sich zwanzig Personen, darunter ein Mann mit einem offenen Bauchschuss, der unversorgt war. Die schwer verletzten Männer lagen auf der Straße. Figl ließ die Unglücklichen ins Hainburger Krankenhaus und ins Wiener AKH bringen. Noch am nächsten Tag, als Figl über den Vorfall in der Regierungssitzung berichtete, war er von den Ereignissen mitgenommen: „. . . man muss wirklich starke Nerven haben, um das zu ertragen.“ Sein Landesamtsdirektor konnte bei den sowjetischen Behörden durchsetzen, dass die Tschechen diese Grausamkeit einstellten.

Das tragische Intermezzo illustriert aber bereits, welch neue Schwierigkeiten auf Figl im Lauf dieses Jahres zukamen. Und zwar als Landeshauptmann von Niederösterreich: der altösterreichische Flüchtlingsstrom aus Böhmen und Mähren. Seit Mitte Mai 1945 hatte die Tschechoslowakei in großem Stil mit der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung begonnen, bewilligt von den Siegermächten. Tausende strömten über die Grenze.

Unter katastrophalen Umständen landeten im Jahr 1945 auf österreichischem Staatsgebiet rund zwei bis drei Millionen Nichtösterreicher: die Sudetendeutschen, Kriegsflüchtlinge, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene. Aber Österreich hatte für sie alle nicht genug zu essen. Viele reisten nur durch, andere blieben. Figl versuchte, den Flüchtlingsstrom einzudämmen: Man sollte nur die Deutschen aus der „Tschechei“ aufnehmen, die „Reichsdeutschen“ hingegen sollten auf deutschen Territorium Zuflucht suchen. Es blieb bei dem Versuch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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