Vertreibung der Sudetendeutschen: "Die Kindheit war zu Ende"

Symbolbild: Sudetendeutsche mit Gepäck im Juni/Juli 1945
Symbolbild: Sudetendeutsche mit Gepäck im Juni/Juli 1945APA
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Vor 70 Jahren wurden Erika Örtel und Reiner Elsinger vertrieben: "Von einem Tag auf den anderen war die Rechtslage in tschechischer Hand".

"Es wird mir immer im Gedächtnis bleiben, wie sie uns damals aus dem Zugwaggon in die 'Freiheit' entließen und mein Vater mit seinem Herzfehler im Straßengraben zusammenbrach. Mir wurde in dem Moment bewusst, dass jetzt meine Heimat weg ist und ich obdachlos bin", erzählt Erika Örtel. Sie wurde 1933 in der Nähe von Liberec, auf Deutsch Reichenberg, im heutigen Tschechien geboren und am 13. Juli 1945 aus ihrer Heimat vertrieben. "Da war mit 12 Jahren ganz plötzlich auch meine Kindheit zu Ende."

"Von einem Tag auf den anderen war die Rechtslage in tschechischer Hand, wir konnten nicht mehr in die Schule gehen. Wir mussten weiße Armbinden tragen mit einem 'N' für nemec, also Deutscher", berichtet die heute 82-Jährige. Auch die Verwendung der öffentlichen Verkehrsmittel wurde ihnen umgehend untersagt und die deutschen Männer wurden zu "Hunger- und Todesmärschen" gezwungen, geprügelt, erschossen.

Ihre Erinnerungen hat Örtel verschriftlicht und als Biografie veröffentlicht.

"Ohne mich, hätte sich meine Mutter umgebracht"

Reiner Elsinger wurde 1932 in Nikolsburg, dem heutigen Mikulov, geboren. Auch er war damals mit 12,5 Jahren gemeinsam mit seiner Mutter aus seinem Heim vertrieben worden. Zuvor auf der Flucht vor der Verlagerung der Frontlinie versuchten sie, nach Kriegsende am 8. Mai wieder in ihr Heim zu kommen. Sie waren zu spät, das Eigentum und Haus der Familie war bereits in tschechischer Hand. "Die Vertreibung hatte schon begonnen und wir entschlossen uns weiter Richtung Westen zu fliehen und sind bis nach Mauthausen gelangt."

Fast jeden Tag der Flucht hat Elsinger noch in Erinnerung: "Für mich war es irgendwie auch ein Abenteuer. Mit 13 Jahren ist man ja noch von Karl May geprägt. Aber meine Mutter hat gesagt, sie hätte sich umgebracht, wenn sie mich nicht gehabt hätte." Sie schafften es über die amerikanische Demarkationslinie und mit einem der ersten Züge nach Linz, wo sie neben anderen Landsleuten über die damals nachmittäglich vom Roten Kreuz im Radio ausgestrahlten Nachrichten schließlich weitere Verwandte, einen acht Jahre älteren Bruder von ihm sowie zwei Tanten in Vöcklabruck ausfindig machten.

"Der Weg in ein ziviles Leben in Österreich war besonders schwierig und hat sich zehn Jahre hingezogen. Erst 1951 wurde die erleichterte Staatsbürgerschaft erteilt, auch andere Gleichberechtigungen folgten nur zögerlich", berichtet Elsinger. "Wir hatten nichts und mussten betteln gehen." Es gab kaum Arbeitsmöglichkeiten und keine Chance auf Schulbildung.

Der 83-Jährige lebt heute in Perchtoldsdorf ist Geschäftsführer der Südmährer Kulturstiftung und Gestalter der aktuellen Ausstellung "70 Jahre Vertreibung" am Südmährerhof im Weinviertler Museumsdorf Niedersulz: "Wir verfügen über hunderte Zeitzeugenberichte aus Südmähren und etwa 55 Interviews sind in der Ausstellung präsentiert."

Hinweise

Örtel Erika, Biografie "Ausweisung: 53 Jahre danach", Verlag novum publishing gmbh 2009.

Ausstellung "70 Jahre Vertreibung" im Südmährerhof, Museumsdorf Niedersulz, www.museumsdorf.at

(APA)

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