Lincoln und die Juden: "Haben noch keinen Hebräer ernannt"

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Der Befreier der versklavten Schwarzen förderte gegen den Widerstand antisemitischer Militärs und Politiker die Gleichberechtigung der jüdischen Amerikaner. Ein neues Buch eröffnet faszinierende Einblicke.

Als Abraham Lincoln 1809 geboren wurde, gab es im ganzen Land schätzungsweise nur 3000 Juden; in seinem Todesjahr 1865 über 150.000. Wie dachte der Befreier der schwarzen Sklaven über die Juden? Was prägte dieses Denken? Und was hielten Amerikas Juden von ihm? Im heurigen Gedenkjahr zum Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und zur Ermordung des 16. US-Präsidenten haben zwei führende Erforscher der jüdischen US-Geschichte Antworten für eine breite Öffentlichkeit geliefert.

Seinen ersten Juden lernte Lincoln erst mit Mitte 30 kennen, erfährt man im Buch „Lincoln and the Jews: A History“ des Historikers Jonathan D. Sarna und des Manuskriptesammlers Benjamin Shapell. Es war der Kaufmann Louis Salzenstein, nahe Marburg in Hessen geboren und 1843 nach Illinois ausgewandert. Lincoln vertrat ihn später in einem Rechtsstreit. Der erste wirklich enge jüdische Freund war jedoch Abraham Jonas, Spross einer orthodoxen Familie im englischen Portsmouth.

Schnell wurden die beiden Freunde, bald politische Weggefährten. Sie gründeten die Republikanische Partei in Illinois, und als diese einen Kandidaten für die Präsidentenwahl 1860 suchte, war Jonas treibende Kraft hinter Lincolns Nominierung.

Gegen die Juden-Missionierung

Mehr als die Hälfte seines Lebens hatte Lincoln Juden nur aus der Bibel gekannt. Lincolns Religiosität ist bis heute für viele Menschen schwer zu fassen: Einerseits gab es zuvor und seither keinen Präsidenten, der die Heilige Schrift so verinnerlicht hatte wie er. Andererseits gehörte er, der aus einer bitterarmen, tiefgläubigen Familie englischstämmiger Puritaner stammte, zeitlebens keiner Kirche an. Diese religiöse Tradition, fußend auf dem Glauben an die göttliche Vorbestimmung, grenzte die Lincolns im Verhältnis zu den Juden von der Mehrheit der evangelikalen Protestanten ab: Sie lehnten die Missionierung von Juden strikt ab. Die Evangelisierung der Juden war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine starke Bewegung in den USA, die sich zugleich darum bemühte, die Vereinigten Staaten mittels Verfassungsänderung als christliche Nation zu verorten. Auch davon hielt Lincoln nichts, das spiegelt sich in seiner Wortwahl wider: Nach und nach verschwanden explizite Bezüge zum Christlichen aus den Reden, bis hin zum „Volk unter Gott“ aus der Gettysburg-Rede 1863, dem sich auch Nichtchristen zugehörig fühlen durften.

Lincoln war den Juden gegenüber freundlich gesonnen, doch das beruhte nicht ganz auf Gegenseitigkeit. Vor allem in den Südstaaten und in New York sah man seine Bestrebungen zur Abschaffung der Sklaverei als Angriff auf die Baumwollwirtschaft; in New York arbeiteten viele Juden in der Textilindustrie, der drohende Konflikt mit den Südstaaten rührte an ihren Lebensunterhalt. Zahlreiche Rabbiner hielten feurige Predigten gegen Lincoln und verteidigten die Sklaverei mit Berufung auf Bibelstellen. „Wie wagen Sie es, angesichts des Schutzes von Sklaveneigentum in den Zehn Geboten, die Sklavenhaltung als Sünde anzuprangern?“, donnerte der einflussreiche Rabbi Morris Raphall. Umgekehrt waren einige Gegner der Sklaverei glühende Judenhasser; William Lloyd Garrison etwa beschimpfte einen jüdischen Gegenspieler als „direkten Nachkommen jener Monster, die Jesus ans Kreuz genagelt haben“.

Doch vor allem jüngere Juden unterstützen Lincoln und seinen Kampf gegen die Sklaverei. Viele von ihnen waren erst nach den gescheiterten liberalen Revolutionen 1848/49 nach Amerika geflohen. Der gebürtige Bayer Abraham Kohn etwa, ein Führer der Gemeinde in Chicago, machte sich im Wahlkampf 1860 für Lincoln stark. Ein in New Orleans lebender Sohn seines Freundes Abraham Jonas wiederum warnte Lincoln vor einem Mordkomplott anlässlich der Amtseinführung; Lincoln mied daraufhin das ihm feindlich gesinnte Baltimore.

Anfang 1863 traf er eine Entscheidung, die sein Ansehen auch unter skeptischen Juden enorm steigern sollte. General Ulysses S. Grant, Kommandeur der Tennessee-Armee, hatte in seinem Militärbezirk mit Baumwollschmugglern zu ringen, und kam zu der Überzeugung, der Baumwollschmuggel sei in jüdischer Hand, er befahl: „Juden als eine Klasse“ seien aus dem Militärbezirk auszuweisen. Lincoln erfuhr erst nach Wochen davon, er hob den Befehl sofort auf. Als ihm tags darauf eine Delegation jüdischer Gemeindeführer dankte, erklärte er: „Ich höre es nicht gern, wenn eine Klasse oder Nationalität aufgrund von ein paar Sündern verurteilt wird.“

Ein orthodoxer Jude auf hohem Posten

Die Gleichbehandlung förderte Lincoln auch durch Personalpolitik. „Ich glaube, wir haben noch keinen Hebräer ernannt“, ließ er den Kriegsminister 1862 wissen und veranlasste ihn, den orthodoxen Juden Cheme Moise Levy im Rang eines Hauptmanns zum stellvertretenden Quartiermeister zu ernennen. Damit besetzte Lincoln einen für die Versorgung der Truppen wichtigen Posten mit dem Schwiegersohn eines seiner schärfsten jüdischen Kritiker – jenes Rabbiners Morris Raphall, der ihn zwei Jahre zuvor so scharf angegriffen hatte. Ein Jahr später empfahl er die Beförderung des aus Österreich eingewanderten Juden William Mayer zum Brigadier; Mayer hatte den blutigen Draft Riot in New York unter Kontrolle gebracht, bei dem mindestens 120 Menschen starben. Unter anderem hatte er schwarze Waisenkinder auf ein Polizeiboot evakuiert und sie so vor dem Verbrennen gerettet. Mayer war damals noch nicht einmal US-Staatsbürger; für Lincoln war das so gleichgültig wie seine Religion.

Einer der damals besten Ärzte Amerikas, der in Riga geborene, in Sibirien inhaftierte und in Deutschland ausgebildete Charles H. Liebermann, stellte in der Nacht auf den 15. April 1865 Lincolns Tod fest. Auf Alonzo Chappels berühmtem Gemälde „Lincolns letzte Stunden“ sieht man Liebermann mit ernstem Blick über den Sterbenden gebeugt. Am Trauerzug nahmen mindestens 7000 Juden teil. Am Tag des Begräbnisses stellte das Kleidergeschäft Hammerslough Brothers (aus Hannover zugewanderte Juden) in Springfield ein Lincoln-Porträt mit einer Inschrift in die Auslage, die wohl keine Übertreibung war: „Millionen segnen Ihren Namen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2015)

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