Sozialsystem 2048: Eigenverantwortung und Solidarität in neuem Verhältnis

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Eine Neubestimmung ist nötig, um das Brechen des Sozialstaats zu vermeiden.

Wie das Sozialsystem im Jahr 2048 aussehen wird, hängt davon ab, wie sich die für seine heutige Ausgestaltung prägenden Parameter verändern werden und wie die Gesellschaft darauf reagieren wird. Extrapoliert man die Entwicklungen von Wirtschaftskraft, Arbeitsformen, Lebenserwartung, Familienstrukturen, Zuwanderung, Technologien und Energiequellen auch nur in die nähere Zukunft – geschweige denn bis ins Jahr 2048 – ist erkennbar, wie vermessen es wäre, auch nur irgend eine Aussage über Details der Zukunft zu machen.

Dennoch wird eines wohl unverändert bleiben: die Hinfälligkeit und Gefährdung des Menschen in bestimmten Lebenssituationen. Krankheit, Schwangerschaft, Alter, Tod und Arbeitslosigkeit bildeten die historischen Kernbereiche der modernen Systeme der sozialen Sicherheit und werden dies auch in funktionierenden Staaten weiterhin bleiben – ja bleiben müssen, wenn der Anspruch auf ein Mindestmaß an Humanität und damit auch sozialer Kohärenz nicht aufgegeben werden wird. Im Laufe der Zeit haben sich auch in Österreich über die Absicherung gegen diese grundlegenden Lebensrisken hinaus auch andere Bereiche der sozialen Sicherheit etabliert, in denen die Allgemeinheit Verantwortung übernommen hat.

Zur Verbesserung und Angleichung von Lebensgestaltungschancen wurden der Familienlastenausgleich, weitgehend kostenloser Schul- und Hochschulbesuch, Stipendiensysteme usw. entwickelt. Wohnbauförderung und vieles mehr werden heute als soziale Wohltaten für selbstverständlich gehalten und geraten fühlbar unter ökonomischen Druck in Folge der Globalisierung der Wirtschaft, der Abwanderung von gut bezahlten Arbeitsplätzen und der Krise der öffentlichen Haushalte.

„Entlastung der Erwerbseinkommen“

Die im Vorfeld der Steuerreform geführten Debatten haben dabei bereits jene Themenfelder markiert, in denen Veränderungen, je rascher desto besser, umzusetzen sind. Notwendig ist jedenfalls eine Entlastung der Erwerbseinkommen von den Kosten der sozialen Sicherheit, eine Vereinfachung des auch für Experten nahezu undurchschaubaren Dickichts an Sozialleistungen, Ausnahmebestimmungen und Sonderregelungen.

Veränderungen entweder im Leistungsrecht oder in der Finanzierungsbasis werden erfolgen müssen, weil das System andernfalls nicht stabil bleiben kann. Verschärft wird der Handlungsdruck dadurch, dass zusätzlicher Finanzierungsbedarf durch neue und weiter wachsende Risken entsteht: die Betreuung pflegebedürftiger Menschen, die Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern, das Eröffnen von Bildungschancen für Heranwachsende und lebensbegleitendes Lernen, psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit biografischen Brüchen. Last but not least werden massive Ausgaben zur Verbesserung der inneren und äußeren Sicherheit durch repressive und präventive Systemelemente, insbesondere auch durch Entwicklungshilfe, erforderlich sein.

Angesichts dieser Herausforderungen werden für die künftige Gestaltung des Sozialsystems tiefergehende Fragen beantwortet werden müssen als der Zeitpunkt und das Ausmaß der nächsten Pensionsreform. Auch die Frage, ob Zahnspangen kostenfrei abzugeben sind, oder die Kürzung der Bezugsdauer von Krankengeld von 72 auf 52 Wochen unsozial war oder nicht, ist zwar für unmittelbar Betroffene wichtig, für das Gesamtsystem jedoch nur von peripherer Bedeutung. Wenn jegliche Veränderung des sozialen Leistungsniveaus als prinzipielle Ungeheuerlichkeit gebrandmarkt wird, und die Verteidigung sogenannter wohlerworbener Rechte als Nagelprobe der sozialen Verantwortung gilt, wird übersehen, dass die Aktualisierung der Beantwortung von Kernfragen überfällig ist.

In diesem Sinn bedarf es zunächst einer Neuordnung der Finanzierungsquellen: Es trifft zweifellos zu, dass die Arbeitskosten entlastet werden müssen und soziale Sicherheit verstärkt steuerfinanziert werden muss. Gibt man sich allerdings nicht der Illusion hin, dass die Steuerlast beliebig ausweitbar ist, bedeutet dies, dass entweder bislang steuerfinanzierte Aufgaben oder aber Leistungen der sozialen Sicherheit reduziert werden müssen. Dies wird in weiterer Folge dazu führen, dass die Neubestimmung von Leistungsniveaus weitergehen muss. Ich bin gespannt, wie beispielsweise die Redimensionierung der Ausgaben für Pensionen erfolgen wird: Wird man sich weiterhin für einen frühen Pensionsantritt einsetzen und im Gegenzug dafür niedrige Pensionen in Kauf nehmen, oder wird man das Pensionsalter anheben und dafür höhere Pensionen ermöglichen? Persönlich hoffe ich, dass diese Frage nicht durch die Politik allein entschieden werden wird, sondern dass dem Einzelnen in einem versicherungsmathematisch berechneten Kontosystem weitgehend freigestellt werden wird, welche Wahl er trifft.

Unter diesem Blickwinkel wird eine Neubewertung im Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität erfolgen müssen. In einem Staat, der von mündigen Bürgern gebildet wird, erwarte ich mir bis 2048, dass die Forderung nach mehr Eigenverantwortung nicht als gleichsam per se abzulehnendes neoliberales Projekt verunglimpft wird, sondern dass das Sozialsystem ein Mehr an Eigenverantwortung von wirtschaftlich Starken einfordert, weil andernfalls Solidarität mit wirtschaftlich Schwachen nicht finanzierbar sein wird.

Gleichheit und neue Ungleichheit

In Konsequenz dieser Entwicklung wird es notwendig sein, das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit neu zu balancieren. Die derzeit bestehenden Ungleichheiten im Sozialsystem anhand des Erwerbsstatus (etwa zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten, Selbstständigen und Unselbstständigen, Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen) sind angesichts der heutigen und zu erwartenden Biografien weder zeitgemäß noch sachlich und werden verschwinden müssen, weil sie den Menschen nicht mehr vermittelbar sind. Auch die Unterschiede im Ausmaß der Absicherung von Risken, etwa bei einfachen Krankheiten und solchen, die auf Arbeitsunfällen beruhen, oder in der Invalidität für Arbeiter, Angestellte und Selbstständige, werden 2048 hoffentlich überwunden sein.

Umgekehrt wird eine wachsende Ungleichheit innerhalb des Systems zu akzeptieren sein. Wenn jemand, der wirtschaftlich stärker ist, größere Eigenleistungen in der sozialen Sicherheit erbringen muss als der wirtschaftlich Schwache, ist dies aus meiner Sicht ebenso wenig verwerflich wie es zwingend als stigmatisierend zu sehen ist, wenn wirtschaftlich Schwache bestimmte Leistungen erhalten, die wirtschaftlich Starken vorenthalten werden. Dass dieses Konzept aber auch die gesellschaftlich Wertschätzung von individueller wirtschaftlicher Stärke voraussetzt, ist zwingend.

Berufsständische Organisation ade

Diese Entwicklungen werden auch an den bestehenden Institutionen der sozialen Sicherheit nicht spurlos vorübergehen: Bei verstärkter Finanzierung aus Steuern wird eine Neuordnung der sozialen Versicherungen unumgänglich sein; wenn der Erwerbsstatus seine differenzierende Funktion verliert, wird die nach Erwerbsstatus differenzierte Organisation in Frage zu stellen sein.

Wenn die sachlichen Zusammenhänge zwischen medizinischer und beruflicher Rehabilitation nicht länger ignoriert werden, wird die Integration der für Krankenversorgung, Arbeitslosigkeit und Pension zuständigen Institutionen unvermeidlich sein. Dass das System der sozialen Sicherheit auch 2048 berufsständisch und nach den traditionellen Leistungssparten organisiert sein wird, halte ich für unwahrscheinlich.

Gerade in einer Demokratie ist für die Weiterentwicklung des Sozialsystems aber entscheidend, wie wir alle als Bewohner dieses Landes denken und handeln. Werden wir in den Institutionen wie Gewerkschaften, Kammern, Interessenverbände, Sozialversicherungsträger, die sich in der Vergangenheit unschätzbare Verdienste erworben und gestaltende Kraft unter Beweis gestellt haben, auch in den nächsten Jahren in der Lage sein, uns neu zu organisieren, um den künftigen Aufgaben gewachsen zu sein?

Nicht nur Leistungsniveau verteidigen

Wenn es gelingt, das System der sozialen Sicherheit an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen, wird auch im Jahr 2048 eine lebenswerte Gesellschaft solidarisch Verantwortung für Menschen tragen können, die von Lebensrisken getroffen sind, und für eine als fair empfundene Chancenverteilung sorgen können. Wer hingegen heute und in den nächsten Jahren die Veränderung von Strukturen verhindert, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, und wer soziale Leistungsniveaus verteidigt, die im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts möglich waren, wird dagegen das Brechen des Sozialsystems zu beklagen und zu verantworten haben.

Zur Person

Wolfgang Mazal, geboren in Wien, Jurist, ist seit 1992 Universitätsprofessor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien und Leiter des Instituts für Familienforschung. Er ist in Österreich seit Jahren einer der ersten Ansprechpartner, wenn es um Fragen des Sozial-, Arbeits-, Berufs- und Dienstrechts geht. Einer der Schwerpunkte seiner Forschung betrifft Japan und China, seit dem Jahr 1999 hat Mazal inzwischen auch mehr als 40 Forschungsaufenthalte in Japan sowie China absolviert. Mazal ist außerdem seit 2002 Mitglied des Kuratoriums und Leiter der wissenschaftlichen Begutachtungskommission des Leopold-Kunschak-Preises, der seit nunmehr 50 Jahren jährlich vergeben wird. Unter anderem ist er als Experte im Rahmen des Thinktanks Denkwerkstatt St. Lambrecht, die sich mit Zukunftssicherung und Altersvorsorge beschäftigt, führend engagiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

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