Geschichte: „Rom wuchs wie eine riesige Eiskappe“

(c) EPA (Giuseppe Giglia)
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Der britische Historiker Greg Woolf über sein monumentales Buch „Rom. Die Biographie eines Weltreichs“, das Unvergleichliche am alten Rom, dessen Desinteresse an fremden Kulturen und den Islam als verdrängten Erben.

Die Wall Street gehöre dereguliert, sonst würden die USA untergehen wie das alte Rom; und Europa ebenso, wenn es Migranten abwehre und Griechenland im Stich lasse: Das liest man im Jahr 2015 in Zeitungen. Nein, Rom als historische Lehrmeisterin hat nicht ausgedient, auch wenn Staaten aufgehört haben, sich darauf zu berufen, die Rede von römischer Größe und Dekadenz kaum noch für Gegenwartskritik genutzt wird und auch die linke Imperialismuskritik heute alt aussieht, wenn sie vom „bösen“ Rom anfängt. Unvergleichlich lebendiger freilich ist diese Zeit in der Populärkultur, in Videospielen wie „Total War: Rome II“ oder „Empire of Rome“, in teuren Sex-and-crime-Fernsehserien wie „Rome“.

Er berate immer wieder bei Film- und Fernsehprojekten, erzählt der britische Historiker Greg Woolf der „Presse“. Die historische Qualität sei in den vergangenen Jahrzehnten viel besser geworden, „meist korrigiere ich nur kleinere Fehler“. Das antike Rom zu verstehen ist Woolfs Lebensprojekt, auf dem Gebiet gehört er längst zu den führenden Historikern. „Das Römische Reich ist für mich wie ein riesiger Spielplatz. Würde ich zum 19. Jahrhundert forschen, würde ich mich mit 30 Jahren beschäftigen, hier sind es tausend!“

Rom als Ballon, Vampir, Epidemie

Woolf hat sich auch an eine neue Gesamtdarstellung gewagt, mit „Rome: An Empire's Story“, das nun auch auf Deutsch erschienen ist („Rom. Die Biographie eines Weltreichs“, Klett-Cotta). Im Vergleich zur mehrbändigen „Römischen Geschichte“, für die der deutsche Historiker Theodor Mommsen 1902 den Literaturnobelpreis erhielt, ist Woolfs 500-Seiten-Werk geradezu eine Kurzlektüre. Unmöglich, bei diesem Umfang die Machart von Brutus' Dolch oder Bäume und Tempel zu beschreiben, die Caesar in den letzten Minuten seines Lebens sah (wie es US-Historiker Barry Strauss in seinem neuen Buch „The Death of Caesar“ tut). Woolf geht es ganz anders an, konzentriert sich auf die Entwicklung des Reichs und Reichsgedankens, versucht wie in der Astronomie, anhand einer kleinen Datenmenge „Kräfte und Ereignisse zu rekonstruieren, die das historische Universum geformt haben“, „die Muster zu erklären, die ich beobachtet habe“.

Epidemie, Ballon, Vampir oder Vibrationsmuster – die Historiker lieben (wieder) naturwissenschaftliche Vergleiche, wenn es ums römische Reich geht. Woolf wählt als letztes Bild das einer Eiszeit: „Das Reich wuchs wie eine riesige Eiskappe, von dem nach allen Seiten hin Gletscher abbrachen. Als diese Gletscher sich zurückzogen, eher nach Byzanz als nach Rom, hinterließen sie völlig neu geprägte Landschaften und große Bahnen von Endmoränen . . .“ Naturwissenschaften sind aber auch inhaltlich für die Romforschung wesentlich geworden.

„In meiner Studienzeit war die Soziologie total beherrschend, jetzt forscht man zu Wirtschaft, Entwaldung oder Veränderungen der Fauna“, erzählt Woolf, der ein großes Kapitel der Biologie widmet. Erst kürzlich präsentierte Nature neue Erkenntnisse zu den Naturkatastrophen, die im sechsten Jahrhundert den Untergang des Reichs förderten. Aus Eisbohrkernen, Baumringen und den historischen Dokumenten schlossen Solar-, Weltraum-, Klima- und Geowissenschaftler auf einen mächtigen Vulkanausbruch Anfang des Jahres 536 und einen weiteren Vulkanausbruch in den Tropen vier Jahre später.

Multikulti? In Rom nicht wertgeschätzt

Ein weiterer neuerer Forschungsschwerpunkt sei die Migration im alten Rom. Mit Isotopenuntersuchungen an Zähnen etwa kann man rekonstruieren, aus welchen Gebieten Menschen ursprünglich kamen. „Die Mobilität war enorm“, sagt Woolf, „eine Unzahl an Kulturen war im Reich vereint.“ War diese Vielfalt für die Römer auch ein positiver Wert? „Nein! Unterschiede wurden nicht wertgeschätzt. Die Idee, dass Kulturen separate wertvolle Entitäten sind, ist neu. Ich hoffte, in römischen Kochbüchern fremde Rezepte zu finden, da war nichts!“

Wie viel kann man wirklich aus der römischen Geschichte für die heutige Politik lernen? Nicht viel, glaubt Woolf. „Man vergleicht nicht deshalb so gern mit Rom, weil es vergleichbar, sondern weil es so vertraut ist.“ Moderne Reiche und Staaten seien wesentlich anders – und diese Kluft sei nicht so sehr „moralischer, sondern technologischer Natur“. Dafür sei sich die Forschung heute mehr der Gemeinsamkeiten mit anderen großen alten Reichen bewusst, zumindest in groben Zügen. „Die Reiche in Nordindien, in China oder in der frühen islamischen Periode hatten vieles gemeinsam mit Rom, zentralisierte Monarchien, Steuersysteme, Infrastruktur . . . Aber in Rom spielte die Genealogie keine so große Rolle, dafür war die Stadt als politische Gemeinschaft viel wichtiger. Rom hatte ein ganz anderes Fundament, das von den Griechen kam.“

Wann endet Roms Geschichte? Im Buch mit dem Ende des Weströmischen Reiches. „Ich bezweifle, dass Byzanz ein so viel wahrhaftigerer Erbe Roms ist als das westliche Christentum“, sagt Woolf. Oder auch der mittelalterliche Islam: „So viele antike Schriften wurden übersetzt, die Tradition des Hamam kommt vom römischen Bad, die Moscheenkuppel von der römischen Kuppel . . . Man kann den mittelalterlichen Islam nicht ohne die römischen und vor allem die griechischen Vorfahren sehen. Ihn aus der Nachfolge auszugrenzen hat, finde ich, die Sicht auf das Mittelalter verzerrt.“

Zur Person

Greg Woolf wurde aus „Faszination für das Unermessliche“ zum Romforscher, heute ist er einer der weltweit führenden. Er studierte in Oxford und Cambridge und lehrt an der schottischen Universität St. Andrews. „Rom. Die Biographie eines Weltreichs“ ist bei Klett-Cotta erschienen (gebunden, 30,80 Euro).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2015)

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