Für China und Südkorea bleibt Nippon der ungeliebte Nachbar. Auch 70 Jahre nach Ende des Weltkriegs ist sich die Mehrheit der Japaner keiner Schuld bewusst.
Tokio. Es ist der Tag, vor dem sich Shinzō Abe fürchten muss. Es ist der gegebene Anlass für den japanischen Premierminister, endlich reinen Tisch mit der militaristischen Vergangenheit seiner Nation zu machen. Am 15. August 1945 kapitulierte Nippons Kaiser vor der amerikanischen Übermacht und ihren Atombomben, wenig später ging der grausamste Krieg in der Geschichte der asiatisch-pazifischen Region zu Ende.
Die früheren Kriegsgegner, vor allem die Nachbarstaaten im Fernen Osten, die heutigen Verbündeten – und unlängst auch die deutsche Bundeskanzlerin –, fordern vom Tokioter Regierungschef, mit klaren Worten Farbe zu bekennen, sich im Namen der Nation für Aggression und Kriegsverbrechen zu entschuldigen. Genau das fällt Japan auch 70 Jahre danach noch sehr schwer. Shinzō Abe wird am Vorabend des Jahrestags reden.
Was er sagen soll, darüber diskutiert die japanische Öffentlichkeit seit Monaten. Das Dilemma: Lässt er die Schlüsselworte „Entschuldigung“ und „Aggression“ weg, schlägt ihm ein internationaler Proteststurm entgegen. Spricht er von Schuld und Sühne, verliert er vielleicht die nächste Wahl. Umfragen deuten darauf hin, dass fast zwei Drittel der Japaner der Meinung sind, man solle sieben Dekaden nach dem letzten Schuss die Vergangenheit endlich ruhen lassen. Manche denken sogar, ihr Land habe sich für nichts zu entschuldigen. Es gehe um die „Ehre des Volkes“.
Es sind nicht nur notorische Krieger oder unverbesserliche Nationalisten, die sich an jedem Kapitulationsjahrestag im Tokioter Kriegsschrein Yasukuni zusammenrotten, alte Uniformen ausführen und die Hacken zusammenschlagen. Auch nicht nur die Mitglieder des Verbands ehemaliger Veteranen und deren Hinterbliebene, obwohl diese mit rund drei Millionen Wählern eine politische Macht sind. Es sind vor allem Normalbürger und überraschend viele junge Leute, die persönlich nicht für die Verbrechen ihrer Vorväter verantwortlich gemacht werden wollen.
Premier gegen Japaner im Büßerhemd
Shinzō Abe selbst gehört erklärtermaßen auch nicht zu jenen Japanern, die ihre Nation im Büßerhemd sehen möchten. Seiner Grundhaltung entspricht es, Japans Rolle jetzt und 70 Jahre nach der Kapitulation neu zu definieren, und zwar vorzugsweise als politisch-militärisches Korrektiv zu einem immer mehr nach Macht strebenden China. In diesem Sinn will er die seit dem Kriegsende geltende Verfassung revidieren und den Pazifismus-Paragrafen 9 aushebeln, der Japan jeden bewaffneten Militäreinsatz außerhalb des eigenen Verteidigungsfalls verbietet.
Abe nennt seine neue Doktrin „proaktiven Pazifismus“. Wobei noch nicht klar ist, was er in der Konsequenz damit meint. Auch deshalb wird diese Wende von etwa 55 Prozent der Bevölkerung abgelehnt, vor einem Jahr waren noch zwei Drittel dagegen.
In Tokioter Thinktanks wie der Keio-Universität hat die Neuausrichtung Japans bereits Wurzeln geschlagen. Dort dominiert in der Lehre die alte Kriegstheorie, wonach sich Japan als Beschützer asiatischer Werte aufopfert. Damals ging es gegen die Westmächte USA und Großbritannien, heute gegen China, Nordkorea und Russland. Keio-Dozent Yuchi Hosoya: „Japan ist für die Länder im Fernen Osten die einzige Hoffnung.“ Um Staaten wie Indonesien, Malaysia oder die Philippinen – allesamt im Krieg von Japan besetzt – nicht zu enttäuschen, müsse Tokio sein militärisches Gegengewicht auf die Waagschale legen.
Als Beweis werden Umfragen angeführt, dass in diesen Staaten, von denen sich die meisten in Territorialkonflikten mit China befinden, bis zu 80 Prozent der Bevölkerung keine Einwände gegen eine Verfassungsänderung in Japan haben. Selbst bei der Vergangenheitsbewältigung findet knapp die Hälfte, man solle den Krieg allmählich vergessen. Ein anderes Bild mussten die Demoskopen jedoch in China und Südkorea zur Kenntnis nehmen. Drei Viertel der Südkoreaner und gar 90 Prozent der Chinesen lehnen die Pläne der japanischen Regierung rundweg ab, und nur drei bis vier Prozent möchten die Vergangenheit ruhen lassen. Für sie bleibt Japan der ungeliebte und aggressive Nachbar.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2015)