Der Begriff Völkerwanderung ist eine alte Wiener Erfindung

Symbolbild: Altes Wien.
Symbolbild: Altes Wien.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Professor Lazius erklärte bereits 1557, wie sich römische Sitten und Zuzug aus halb Europa vorteilhaft zur „gens Austriadum“ gemischt hatten.

Die rasant anwachsende Zahl an Asylsuchenden und anders motivierten Zuwanderern, die Europa derzeit nicht nur am Rande, sondern im Kern bewegt, wird gehäuft (wohl aus Hilflosigkeit) als Völkerwanderung bezeichnet. Das Wort, das ältere Historiker pauschal für die komplexen Zeiten zwischen dem späten 4. und ausgehenden 6. Jahrhundert verwendeten, erinnert, wenn man es naiv positiv betrachten will, an Wandertage, Ausflüge oder einen alten Kaiser, der stolz seine Völker zählt. Doch so einfach verläuft die Geschichte nicht.

In Frankreich oder Italien spricht man über die Epoche, in der Rom die Dominanz verloren hat, unverblümt von „invasions barbares“ bzw. „invasioni barbariche“. Damit sind nicht nur die Hunnen gemeint, sondern v.a. die wilden Germanen. Zurückhaltende Briten hingegen, die mit ihren Weltreich-Erfahrungen Massenbewegungen gewohnt sind, sprechen fast wertneutral von „migration period“.

Völkerwanderung aber ist eines jener schwer übersetzbaren deutschen Komposita, die dem Lateinischen abgekupfert wurden: Die Wendung „migratio gentium“ wurde früh in Wien geprägt, als hier der Humanismus blühte. Wolfgang Laz (1514–1565), Kind von Zuwanderern aus Württemberg, hatte am Hof Ferdinands I. als Leibarzt Karriere gemacht. Der Doktor der Philosophie und Medizin brachte es zu hohen akademischen Würden, als Professor, Dekan und Rektor gar der hiesigen Universität. Ja, man konnte damals als Ausländerkind in Wien reüssieren. Laz latinisierte seinen Namen zu Lazius. Ihm verdanken wir vor allem eine frühe Stadtgeschichte Wiens und Landkarten von Ungarn (wo er in jungen Jahren Militärarzt war) nebst Umgebung – von Bayern bis Griechenland. Sein Grabstein ist in der Peterskirche zu sehen.

Über die spätantike Migration veröffentlichte Laz 1557 „De aliquot gentium migrationibus...“, eine dynamische Interpretation dunkler Vergangenheit. Ihn interessierte nicht so sehr das Schicksal des langsam zerfallenden Weströmischen Reichs, sondern die Chance der Neuen, sich auf diesen Trümmern zu entwickeln. Seine Völkerwanderung ist – sozusagen aus der Perspektive der Zuwanderer – eine Erfolgsgeschichte. Der Mix macht die Attraktion dieser „gens Austriadum“ aus. Römische Sitten mischten sich mit jenen aus halb Europa. Als wäre er der Herrscher über einen Vielvölkerstaat, schreibt Laz von Gallogriechen, Kelten, Taurisern, Karniern, Boiern, Senonen, Sueben, Markomannen, Quaden, Goten, Gepiden, Herulern, Burgundern, Langobarden und sogar Teutonen. Auch ohne Awaren, Slawen und Ungarn klingt das bereits nach Gemeindebau vor 1500 Jahren.

Wahrscheinlich hatte dieser weltoffene europäische Gelehrte der frühen Neuzeit die Absicht, durch seine differenzierte Darstellung die Vielfalt seiner Heimat zu preisen. Die romantischen und nationalen Hintergedanken, die sich später beim aufgeklärten Johann Gottfried Herder im 18. und bei seinen weniger aufgeklärten historisierenden deutschen Kollegen im 19. Jahrhundert zum Slogan Völkerwanderung einstellten, waren Professor Lazius offenbar noch fremd.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2015)

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