"Kathrein-Wahl": Hungerwinter 1945 und ein giftiger Wahlkampf

Die „Arbeiter-Zeitung“ machte im Wahlkampf ebenso mobil wie die ÖVP.
Die „Arbeiter-Zeitung“ machte im Wahlkampf ebenso mobil wie die ÖVP.(c) Zeitungssammlung Scheidl
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Der erste freie Urnengang nach dem Zweiten Weltkrieg war dem beharrlichen Karl Renner zu danken. Im Wahlkampf schenkten einander Sozialisten und Volkspartei gar nichts - alte Ressentiments wurden aufgewärmt.

Wien, November 1945: „Der Winter steht vor der Tür. Kaum jemand hat noch Kohle oder Koks vorrätig. Da kommt die Nachricht, dass die alliierten Besatzungstruppen Brennmaterial beistellen wollen.“ Dies berichtete die „Presse“-Journalistin Pia Maria Plechl in ihren Erinnerungen an das Kriegsende, die sie vor zwanzig Jahren, kurz vor ihrem Tod zu Weihnachten 1995, für dieses Blatt niedergeschrieben hat.

Während man sich in Wien mehr schlecht als recht, aber immerhin ernähren konnte, gab es im Land ringsum noch echte Hungerbezirke. Anfang November empfing Landeshauptmann Josef Reither eine Deputation aus den Notstandsgebieten St. Pölten, Lilienfeld, Wr. Neustadt und Neunkirchen. Ein Betriebsrat aus Enzesfeld berichtete, dass er täglich einen Arbeiter zu Grabe trage, den der Hunger hinweggerafft hatte.

Eine Frau aus Wr. Neustadt sprach über die verzweifelten Versuche von Müttern, ihre Kinder ins Krankenhaus zu bringen, weil es zu Hause nicht genug Nahrung für sie gab. In Perchtoldsdorf, im „Schwedenstift“, war eine Ärztin bemüht, für die kleinen Patienten Vitamine in Gestalt der jungen Triebe von Trockenerbsen zu gewinnen.

Viele Schwestern blieben über Nacht im „Schwedenstift“, weil sie sich abends vor der Begegnung mit betrunkenen Sowjetsoldaten fürchteten. Manchmal polterten Rotarmisten mit dem Ruf „Frau! Frau!“ an die Tore, konnten aber stets abgewehrt werden.

Solche Vorfälle gab es – nicht immer mit so glimpflichem Ausgang – auch anderswo in der Sowjetzone. Das war der Anlass für eine Bemerkung der sozialistischen „Arbeiter-Zeitung“ über ein Plakat zur bevorstehenden Wahl vom 25. November: „Wer die Rote Armee liebt, wählt kommunistisch.“

Mutige „Arbeiter-Zeitung“

Die „AZ“ schrieb: „Wir fragen nun die Kommunistische Partei, ob sie für diese seltsame Wahlpropaganda verantwortlich ist.“ Primär ging es dabei freilich um die Involvierung der Besatzung in den Wahlkampf, was aus dem vorsichtigen Satz hervorging: „Es geschieht sicher nicht mit dem Einverständnis der Roten Armee.“

Es herrschte also Wahlkampf. Der erste seit den Nationalratswahlen 1930! In einem Geniestreich, den wir heute Lebenden dem alten Mann nicht hoch genug anrechnen können, hatte Karl Renner auf einen Wahltermin noch im Jahr 1945 gedrängt. Schließlich war er im April zunächst nur von den Sowjets als provisorischer Staatskanzler eingesetzt worden. Er setzte eine „Länderkonferenz“ im September an, danach sollte es so rasch wie möglich eine demokratisch legitimierte Bundesregierung geben, die auf Augenhöhe mit den vier Besatzungsmächten verhandeln konnte. Karl Renners Plan ging voll auf.

Der Westen war sowieso dafür. Aber auch die Sowjets, die inzwischen ganz Ostösterreich besetzt hatten, stimmten dem Termin 25. November („Kathrein-Wahlen“) zu. Sie rechneten mit einem Drittel der Stimmen und sollten durch das Votum der Österreicher dann schwer enttäuscht werden.

Die österreichische KP-Führung, die den Weltkrieg zum Teil in Moskau überlebt hatte, war von Anfang an entsetzt. Sie ahnte das Debakel. Ihre Proteste im Kreml und beim russischen Hochkommissar in Wien hatten einiges für sich: Es existierten schließlich nur völlig rudimentäre Wählerverzeichnisse. Das Ganze komme überfallsartig, zudem sei die KPÖ-Wahlwerbung noch nicht in Schwung gekommen.

Die Alliierten hörten gar nicht hin. Renner hatte alle überlistet. Wer aber annahm, dass die beiden großen demokratischen Lager, Schwarz und Rot, einander mit Samthandschuhen anfassen würden, der wurde bald enttäuscht. Es war ein giftiger Wahlkampf zwischen den beiden großen Lagern, wie sie seit der Ersten Republik bestanden (die mehr als 500.000 ehemaligen Nationalsozialisten waren vom Wahlrecht ausgeschlossen). Obwohl vor allem die Sozialisten nicht zimperlich waren in ihrem Wahlkampf und wiederholt mit Argumenten aus der Ständestaat-Zeit agitierten, gab es doch eine Gemeinsamkeit: den Appell an alle, die abstimmen durften, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.

Der „Weltsicherheitsverband“

„Unser Vaterland ist bitterarm geworden“, hieß es im Wahlaufruf der ÖVP. Schuld sei der Krieg und der nationalsozialistische Raubbau. Nur allmählich werde man durch „hingebungsvollen Fleiß und die hohe Qualität der österreichischen Arbeit“ allmählich wieder zu Wohlstand und Blüte gelangen.

Staatspolitisch wollten die VP-Gründer „die Durchsetzung einer den historischen, geografischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten Rechnung tragenden Grenzziehung durch die bevorstehende Weltfriedenskonferenz, Eingliederung Österreichs in den Weltsicherheitsverband, friedliche Außenpolitik“, Freundschaft vor allem mit den „vier verbündeten Großmächten“.

Auch die Schaffung eines Milizheeres findet sich, „zur militärischen Sicherung des Hoheitsgebietes (!) und zur Durchführung militärischer Sanktionen, die der Weltsicherheitsverband gegebenenfalls gegen internationale Friedensstörer verhängt“.

Bemerkenswert die Forderung zum Eherecht: Auch kirchlich geschlossenen Ehen solle staatliche Geltung zukommen, wenn diese unverzüglich dem Standesamt gemeldet wurden. Ein Passus, der in der Koalition mit der SPÖ nicht zum Tragen kam, ebenso wenig die Forderung, dass für Schulkinder ohne religiöses Bekenntnis ein „pflichtgemäßer Ersatzunterricht“ einzuführen sei.

Umstritten blieb bis in die Siebzigerjahre der Punkt: „Intensivste Arbeit am Aufbau der österreichischen Nation, die starkes, stolzes österreichisches Staats- und Kulturbewusstsein formen muss“. Das war die Handschrift des KZ-Überlebenden Felix Hurdes.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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